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Mann zeigt auf Tarifregelungen
4. Januar 2018 / by kanzleiKerner

Tarifverträge im Arbeitsverhältnis – was gilt wann?

Das Arbeitsverhältnis richtet sich nach dem Arbeitsvertrag. Das ist richtig, aber nicht die ganze Wahrheit: In jedes Arbeitsverhältnis wird automatisch das gesamte europäische und deutsche Arbeitsrecht einbezogen und begrenzt die Gestaltungsfreiheit des Arbeitsvertrags. Außerdem kennt das Arbeitsrecht eine Besonderheit: Tarifverträge. Diese werden geschlossen, wenn Gewerkschaften mit Arbeitgebern oder Arbeitgeberverbänden Regelungen für ganze Arbeitnehmergruppen aushandeln. Die statistische Wahrscheinlichkeit, dass ein oder mehrere Tarifverträge auf Ihr Arbeitsverhältnis Anwendung finden, ist dabei groß: Für die Hälfte der deutschen Arbeitnehmer gilt ein Tarifvertrag.

Wir versuchen im Folgenden, die wichtigsten Fragen zu diesem Thema zu klären.

Wann gilt für mich ein Tarifvertrag?

Ein Tarifvertrag findet auf Ihr Arbeitsverhältnis Anwendung, wenn entweder

  • Arbeitgeber und Arbeitnehmer tarifgebunden sind; der Arbeitgeber muss also Mitglied eines Arbeitgeberverbandes sein oder den Tarifvertrag selbst geschlossen haben, gleichzeitig muss der Arbeitnehmer Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft sein
    oder
  • der Tarifvertrag im Arbeitsvertrag in das Arbeitsverhältnis einbezogen ist („Auf das Arbeitsverhältnis findet der Tarifvertrag (…) Anwendung.“)
    oder
  • der Tarifvertrag für allgemeinverbindlich erklärt wurde, dann gilt er ohne Zutun der Arbeitsvertragsparteien

 

Ein Rechtsanwalt wird also den Arbeitsvertrag auf eine Verweisung auf einen Tarifvertrag prüfen, falls dann noch erforderlich und sofern Sie Arbeitnehmer sind nach einer Gewerkschaftszugehörigkeit fragen und danach, ob Tarifverträge im Unternehmen üblicherweise angewendet werden. Ferner wird er überprüfen, ob ein allgemeinverbindlicher Tarifvertrag existiert. Werden all diese Frage verneint, findet auf das Arbeitsverhältnis kein Tarifvertrag Anwendung, maßgeblich sind dann alleine Arbeitsvertrag und Gesetz. Anderenfalls ist der entsprechende Tarifvertrag die gegenüber dem Arbeitsvertrag ranghöhere Rechtsquelle.

Was bedeutet nun ranghöhere Rechtsquelle? Die Normenhierarchie des Arbeitsrechts lautet wie folgt:

  1. Europäisches Recht und hierauf beruhende Verordnungen; bei Richtlinien ist das deutsche Recht möglichst entsprechend der Richtlinie auszulegen
  2. Deutsches Verfassungsrecht, insbesondere die Grundrechte allgemeines Persönlichkeitsrecht, Meinungsfreiheit und Berufsfreiheit
  3. a. Deutsche Gesetze des Arbeitsrechts, insbesondere die §§ 611 ff. Bürgerliches Gesetzbuch. b. Tarifverträge; diese gehen dem Gesetz vor, wenn das Gesetz tarifdispositiv ist, also eine Abweichung durch Tarifvertrag auch zuungunsten des Arbeitnehmers gestattet
  4. Betriebs- und Dienstvereinbarungen; diese gehen dem Gesetz nur vor, wenn das Gesetz Abweichungen sowohl durch Tarifvertrag als auch auf andere Weise zulässt
  5. Arbeitsvertrag

 

Sollten sich Regelungen widersprechen und der Arbeitnehmer durch die rangniedrigere Regelung benachteiligt sein, gilt die ranghöhere Rechtsquelle. Nur wenn der Tarifvertrag seinerseits eine Abweichung gestattet, darf der Arbeitgeber etwas anderes, für den Arbeitnehmer Nachteiliges, im Arbeitsvertrag regeln. Anderenfalls sind nachteilige Regelungen im Arbeitsvertrag als rangniedrigerer Rechtsquelle unbeachtlich.

Beispiel 1:

Ein Tarifvertrag, eine Betriebsvereinbarung oder ein Arbeitsvertrag bestimmt, dass einem Arbeitnehmer bei einer 5-Tage-Woche im Kalenderjahr 15 Urlaubstage zustehen. § 3 Abs. 1 Bundesurlaubsgesetz bestimmt hingegen einen jährlichen Urlaubsanspruch von mindestens 20 Tagen bei einer 5-Tage-Woche. Nach § 13 Abs. 1 Bundesurlaubsgesetz darf von dieser Regelung nicht und zwar auch nicht durch Tarifvertrag abgewichen werden. Das Gesetz ist also zwingend und geht den rangniedrigeren Bestimmungen vor (siehe oben). Dem Arbeitnehmer stehen daher 20 Urlaubstage im Kalenderjahr zu.

Beispiel 2:

Ein Tarifvertrag, eine Betriebsvereinbarung oder ein Arbeitsvertrag bestimmt, dass der Arbeitnehmer jede Form der politischen Meinungsäußerung im Betrieb und jede Kritik an den Zuständen im Betrieb zu unterlassen hat. In dieser Pauschalität verstößt diese Regelung gegen die nach Art. 5 Grundgesetz geschützte Meinungsfreiheit. Die kraft Verfassung garantierten Grundrechte gehen den rangniedrigeren Rechtsquellen vor. Der Arbeitnehmer ist also nicht verpflichtet, sich jeder Meinungsäußerung zu enthalten und darf innerhalb der grundrechtlich geschützten Grenzen hierfür nicht sanktioniert werden. Näheres zu den Grenzen der Meinungsfreiheit im Arbeitsverhältnis finden Sie hier.

Da das Arbeitsrecht seinem System nach zum Schutz der Arbeitnehmer geschaffen wurde, gilt aber nicht immer automatisch die ranghöhere Rechtsquelle: Sofern die rangniedrigere Rechtsquelle für den Arbeitnehmer objektiv günstiger ist, gilt sie (Günstigkeitsprinzip).

Objektiv bedeutet, dass ein „normaler“ Arbeitnehmer eine Regelung als günstiger empfinden würde. Für den Günstigkeitsvergleich muss aber nicht die gesamte Belegschaft herangezogen werden, Maßstab ist der einzelne Arbeitnehmer. Regelt also ein Arbeitsvertrag oder eine Betriebsvereinbarung einen höheren Urlaubsanspruch oder eine höhere Sonderzahlung als der ebenfalls anzuwendende Tarifvertrag, besteht grundsätzlich der höhere Anspruch. Mit dem Günstigkeitsvergleich bei Kündigungsfristen haben wir uns hier näher befasst.

Allerdings: Rosinenpickerei gestattet das Arbeitsrecht auf diese Weise nicht; es muss der gesamte geregelte Komplex betrachtet werden (z.B. die Regelung der Vergütungsbestandteile einschließlich Sondervergütung und Zulagen insgesamt). Wo hier die Grenze des so genannten Sachgruppenvergleichs zu ziehen ist, kann im Einzelfall kompliziert sein – bei Unsicherheiten empfehlen wir die Hinzuziehung eines Fachanwalts für Arbeitsrecht.

Darf der Arbeitgeber auf Teile von Tarifverträgen verweisen?

Die Gesetze sehen häufig vor, dass in einfachen Arbeitsverträgen nur zugunsten des Arbeitnehmers abgewichen werden darf, in Tarifverträgen allerdings sowohl zugunsten als auch zu Ungunsten der Arbeitnehmer. Der Grund liegt darin, dass der Gesetzgeber glaubt, dass durch die Tarifverhandlungen insgesamt ein ausgewogenes Vertragswerk zustande kommt, die Arbeitnehmer also für etwaige Abweichungen vom Gesetz zu ihren Ungunsten an anderer Stelle eine Kompensation erhalten. Aus diesem Grunde werden Tarifverträge von den Gerichten anders als gewöhnliche Arbeitsverträge auch nicht daraufhin überprüft, ob ihre Regelungen fair sind. Sie werden von den Gerichten daher wie Gesetze geprüft und angewandt.

Eine Verweisung auf einen gesamten Tarifvertrag (so genannte Globalverweisung) ist dem Arbeitgeber grundsätzlich immer gestattet. Das ist selbst dann möglich, wenn der Tarifvertrag fachlich für das Arbeitsverhältnis eigentlich nicht passt. In diesem Fall überprüfen die Gerichte zwar im Streitfall, ob die Regelung des Tarifvertrags für den konkreten Fall angemessen ist, grundsätzlich ist sie aber wirksam.

Manchmal sieht der Arbeitsvertrag allerdings nicht den Verweis auf einen gesamten Tarifvertrag vor, sondern dass sich beispielsweise „der Jahresurlaub nach dem Tarifvertrag xy regelt“, obwohl dieser Tarifvertrag ansonsten im Arbeitsvertrag keine Rolle spielt.

Verweist der Arbeitsvertrag auf einen vollständigen Regelungskomplex eines fachlich passenden Tarifvertrags (beispielsweise das vollständige Vergütungssystem des Tarifvertrags der Gebäudereinigung für eine Neueinstellung im Bereich Gebäudereinigung), ist diese Verweisung wie bei einer Globalverweisung „ohne Wenn und Aber“ wirksam.

Verweist der Arbeitgeber aber auf Einzelregelungen aus einem Tarifvertrag, gilt nichts anderes als wäre die Regelung im Arbeitsvertrag direkt getroffen worden: Der Arbeitnehmer kann gerichtlich überprüfen lassen, ob diese Regelung den Gesetzen entspricht und angemessen – also im Wesentlichen fair – ist.

Was kann ich tun, wenn der Tarifvertrag nicht vorliegt?

Der Arbeitgeber muss den Arbeitnehmer im Arbeitsvertrag auf die anzuwendenden Tarifverträge hinweisen und hat außerdem Tarifverträge, die aufgrund eigener Tarifgebundenheit wirken, im Betrieb auszulegen (§ 8 Tarifvertragsgesetz). Das hilft zwar praktisch wenig, wenn das Arbeitsverhältnis wie häufig zum Zeitpunkt des Streits nicht mehr im Betrieb tätig ist. Ist der Arbeitnehmer Gewerkschaftsmitglied, ist der Fall allerdings dennoch recht unproblematisch, denn dort hat der Arbeitnehmer Anspruch auf Aushändigung des Tarifvertrags. Allgemeinverbindliche Tarifverträge stehen außerdem häufig im Internet zum Download bereit.

Schwieriger kann es werden, wenn ein Tarifvertrag „nur“ über den Arbeitsvertrag einbezogen ist. Dann besteht weder einer Pflicht des Arbeitgebers, den Tarifvertrag betriebsintern auszulegen noch ihn anderweitig herauszugeben. Die Gewerkschaften stellen Abschriften nur für Mitglieder zur Verfügung. Die vertragliche Bezugnahme auf den Tarifvertrag ist aber gleichwohl wirksam, der Tarifvertrag gilt also – insbesondere seine Ausschlussfrist (!)

Was ist also zu tun? Folgende Möglichkeiten sollte der betroffene Arbeitnehmer zunächst nutzen:

Gelegentlich sind im Internet über eine Suchmaschine Tarifverträge aufzufinden. Hier ist besonders darauf zu achten, dass auch wirklich der gesuchte Tarifvertrag und nicht lediglich ein ähnlicher gefunden wurde. Die Gerichtsbibliotheken der (Landes-)arbeitsgerichte sammeln ferner in der Regel Tarifverträge und halten diese zur Ansicht bereit. Mit ein wenig Glück ist der gesuchte Tarifvertrag hier hinterlegt. Sollten diese Maßnahmen nicht zum Erfolg führen, kann der Arbeitnehmer erwägen, Mitglied der tarifschließenden Gewerkschaft zu werden.

Notfalls sollte der Arbeitnehmer davon ausgehen, dass der Tarifvertrag eine kurze Ausschlussfrist vorsieht und vorsorglich zeitnah die bekannten oder vermuteten Ansprüche bei seinem Arbeitgeber geltend machen (Näher dazu hier).

Fazit

Tarifverträge sind ein wesentlicher Bestandteil des Arbeitsrechts und ersetzen häufig vollständig den Arbeitsvertrag. Wir raten daher jedem Arbeitnehmer und Arbeitgeber, sich mit den der arbeitsrechtlichen Normenhierarchie und den Basics zum Thema vertraut zu machen. Gerade die in fast jedem Tarifvertrag vorhandenen Ausschlussfristen stellen in der Praxis einen häufigen Stolperstein dar und sollten deshalb rechtzeitig in Erfahrung gebracht werden.

Noch Fragen?

Haben Sie Fragen zu dem Thema Tarifvertrag? Wir helfen Ihnen gerne weiter.

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