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Man übergibt mehrere Geldscheine an eine andere Person
19. Oktober 2022 / by Kanzlei Kerner

Wann ist Tarifvergütung üblich und der eigene Lohn sittenwidrig?

Urteil LAG Mecklenburg-Vorpommern vom 26.07.2022

Im Arbeitsleben trifft die schöne Idee, dass zwei gleichrangige Vertragsparteien Leistung und Gegenleistung miteinander aushandeln noch weniger zu als schon sonst im Wirtschaftsverkehr. Stattdessen ist es fast immer der Arbeitgeber, der dem zukünftigen Arbeitnehmer den Arbeitsvertrag nur noch zur Unterschrift vorlegt. Strukturelle Überlegenheit nennen Juristen eine solche Konstellation. Nach unten hin begrenzt vor allem der gerade zum 1. Oktober 2022 frisch angehobene Mindestlohn die Vertragsfreiheit. Daneben gilt eine weitere Grenze, die der Sittenwidrigkeit. Und diese Überprüfung funktioniert so:

Ist die Höhe der Vergütung überhaupt nicht bestimmt, gilt die „übliche Vergütung“ als vereinbart (§ 612 Abs. 2 BGB). Dass die Vergütung tatsächlich nicht bestimmt wird, ist höchst selten. Relevanter ist die Verbindung mit § 138 BGB: Ist das vereinbarte Gehalt sittenwidrig niedrig, ist die Vereinbarung nichtig und die Vergütung somit wieder „nicht bestimmt“ mit der Folge, dass die übliche Vergütung als vereinbart gilt. Diese übliche Vergütung liegt oftmals über dem ohnehin jederzeit zu zahlenden Mindestlohn.

Wann ist das Gehalt sittenwidrig niedrig?

Für die Annahme von Sittenwidrigkeit müssen mehrere Tatbestandsmerkmale zusammenkommen:

Eine Vergütungsabrede ist nichtig, wenn durch sie entweder

  • sich der Arbeitgeber unter Ausbeutung der Zwangslage, der Unerfahrenheit oder des Mangels an Urteilsvermögen des Arbeitnehmers einen Vermögensvorteil gewähren lässt, der in einem auffälligen Missverhältnis zu der Arbeitsleistung steht (§ 138 Abs. 2 BGB) oder
  • es besteht ein auffälliges Missverhältnis, zu dem weitere sittenwidrige Umstände hinzutreten, z. B. eine verwerfliche Gesinnung des Arbeitgebers (§ 138 Abs. 1 BGB, „wucherähnliches Geschäft“)

Wann liegt ein auffälliges Missverhältnis zwischen Arbeitsleistung und Gehalt vor?

Das auffällige Missverhältnis bestimmt sich nach dem objektiven Wert der Leistung des Arbeitnehmers. Das Missverhältnis ist auffällig, wenn die Arbeitsvergütung nicht einmal zwei Drittel eines in dem Wirtschaftszweig üblicherweise gezahlten Tarifentgelts entspricht. Dasselbe gilt, wenn – ohne dass Tarifentgelte vorliegen – die vereinbarte Vergütung mehr als ein Drittel unter dem Lohnniveau, das sich für die auszuübende Tätigkeit in der Wirtschaftsregion gebildet hat, bleibt. Der objektive Mindestwert jeder Art von Tätigkeit bestimmt sich durch den aktuellen Mindestlohn, das übliche Tarif- bzw. Lohnniveau liegt regelmäßig und je nach Tätigkeit deutlich darüber.

Wann liegt ein Ausnutzen bzw. eine verwerfliche Gesinnung vor?

In subjektiver Hinsicht muss bei dem Arbeitgeber die Ausbeutung einer Zwangslage, der Unerfahrenheit, des Mangels an Urteilsvermögen oder der erheblichen Willensschwäche des Arbeitnehmers vorliegen. Eine verwerfliche Gesinnung ist auch schon dann zu bejahen, wenn sich der Arbeitgeber leichtfertig der Einsicht verschließt, dass sich der andere nur wegen seiner schwächeren Lage oder unter dem Zwang der Verhältnisse auf den ungünstigen Vertrag einlässt.

Die Beweislast für all diese Umstände liegt jeweils beim Arbeitnehmer; ist also nicht aufzulösen, ob die oben aufgeführten Tatbestandsmerkmale vorliegen, wirkt sich dies zugunsten des Arbeitgebers aus.

Die verwerfliche Gesinnung ist naturgemäß schwer zu beweisen. Ist das Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung nicht nur auffällig, sondern besonders auffällig, kann die verwerfliche Gesinnung vermutet werden. Das ist der Fall, wenn der objektive Wert der Arbeitsleistung mindestens doppelt so hoch ist wie die Vergütung oder anders gesagt, wenn die Vergütung die Hälfte oder weniger des Wertes der Arbeitsleistung beträgt. In solchen Fällen bedarf es daher nicht mehr des Nachweises einer verwerflichen Gesinnung.

Der aktuelle Fall – (Keine) Üblichkeit der Tarifvergütung

Die spätere Klägerin war seit dem Jahr 2007 bei einer Brauerei als Mitarbeiterin bei der Verpackung und Getränkeabfüllung in Vollzeit beschäftigt. Hierfür erhielt sie einen Stundenlohn in Höhe von 10,10 € brutto. Der Arbeitgeber ist nicht tarifgebunden, die Arbeitnehmerin jedoch Mitglied der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG).

Im Januar 2021 forderte die Arbeitnehmerin gerichtlich die Zahlung eines weiteren Betrages in Höhe von 1.418,77 € brutto monatlich. Zur Begründung gab sie an, ihr derzeitiger Stundenlohn sei sittenwidrig niedrig angesichts der im Wirtschaftsgebiet des Arbeitgebers üblichen Vergütung. Die Vergütung entspreche gerade einmal gut 55 % des tariflich vorgesehenen Entgeltes. Dementsprechend habe sie einen Anspruch auf die Vergütung nach dem für den Wirtschaftszweig und das Wirtschaftsgebiet maßgeblichen Gehalt für Bierbraubetriebe. Insgesamt überwiege in der Region die Tarifbindung, weshalb der Tariflohn als ortsübliche Vergütung anzusehen sei. Der Arbeitgeber nutze die örtliche Arbeitsmarktlage zu seinem Vorteil aus.

Sowohl das Arbeits- wie auch Landesarbeitsgericht wiesen die Klage ab (zuletzt LAG Mecklenburg-Vorpommern, Urteil vom 26.07.2022, Az. 5 Sa 284/21). Das gezahlte Entgelt war nach Auffassung der Gerichte nicht um mehr als 1/3 geringer als der objektive Wert der auszuübenden Arbeitsleistung im Wirtschaftsgebiet. Denn im Wirtschaftszweig Bierherstellung im betreffenden Wirtschaftsgebiet werde nicht üblicherweise das Tarifentgelt des Tarifvertrags gezahlt. Vielmehr seien die Brauereien im Wirtschaftsgebiet überwiegend nicht tarifgebunden. Ausschlaggebend war daher das allgemeine Lohnniveau für die auszuübende Tätigkeit in der Region. Hier ergab sich keine auffällige Differenz. Auch war weder eine Zwangslage oder eine Unerfahrenheit ausgenutzt worden. Zunutze gemacht hatte sich der Arbeitgeber lediglich die wirtschaftliche Situation im Umkreis seines Standorts, also den Mangel an besser vergüteten Arbeitsangeboten für eine solche Tätigkeit in dem Gebiet und die eingeschränkte Mobilität der Arbeitnehmer.

Von der Üblichkeit der Tarifvergütung hätte jedoch nach Ansicht des Landesarbeitsgerichts unter Verweis auf das Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 24.05.2017 (Az. 5 AZR 251/16) ohne weiteres ausgegangen werden können, wenn mehr als 50 % der Arbeitgeber eines Wirtschaftsgebiets tarifgebunden gewesen wären oder wenn die organisierten Arbeitgeber mehr als 50 % der Arbeitnehmer eines Wirtschaftsgebiets beschäftigt hätten.

Fazit

Das Spannende an diesem Urteil ist nicht der konkrete Fall; die Arbeitnehmerin hat schlussendlich keinen Anspruch auf eine Differenzzahlung zu ihrem Gehalt. Spannend ist vielmehr die klare Aussage des Landesarbeitsgericht, dass der Tariflohn als üblich gilt, wenn entweder mehr als 50 % der Arbeitgeber des entsprechenden Wirtschaftszweiges im entsprechenden Wirtschaftsgebiet – hier also Brauereien im selben Wirtschaftsgebiet wie das des Arbeitgebers – oder mehr als 50 % der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer bei tarifgebundenen Arbeitgebern beschäftigt sind. Anhand dieses Tariflohns wäre daher zu bestimmen gewesen, ob der tatsächliche Lohn der Arbeitnehmerin so weit abweicht, dass er als sittenwidrig niedrig gegolten hätte. Das ist aufgrund der tendenziell höheren Tariflöhne relevant. Zwar hat das Bundesarbeitsgericht bereits mehrfach so geurteilt, in diesen Urteilen ging die Aussage allerdings neben anderen Themen etwas unter.

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