Passgenaue Krankschreibung nach Kündigung hat weniger Beweiswert
Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 08.09.2021
Wenn Arbeitnehmer erkrankt sind, benötigen Sie ab einer gewissen Dauer der Erkrankung eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung, die durch den behandelnden Arzt ausgestellt wird. Dieser „gelbe Schein“ genießt im Streitfall einen hohen Beweiswert dafür, dass der Arbeitnehmer tatsächlich arbeitsunfähig erkrankt ist oder war. Nur selten zweifelt ein Gericht diesen Beweiswert an. Möglich ist dies aber doch, wie unter anderem ein aktuell vor dem Bundesarbeitsgericht entschiedener Fall zeigt.
Aber der Reihe nach:
Auf die Arbeitsunfähigkeit kommt es an
Nach § 3 des Entgeltfortzahlungsgesetzes (EFZG) wird im Regelfall bei Arbeitsunfähigkeit pro Krankheit und Jahr bis zu 6 Wochen lang das Gehalt fortgezahlt, ohne dass Arbeitsleistung zu erbringen ist. Das Gesetz sieht vor, dass spätestens ab dem vierten Krankheitstag eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung („gelber Schein“) des behandelnden Arztes vorliegen muss, § 5 Abs. 1 S. 2 EFZG. Arbeitsvertraglich kann dies auch früher verlangt werden. Aktuell gibt es noch nicht die Möglichkeit, teilweise arbeitsunfähig geschrieben zu werden, also beispielsweise für eine Tätigkeit von bis zu 4 Stunden täglich. Es gilt die ärztliche Entscheidung, dass entweder arbeitsfähig vorliegt oder eben nicht.
Was gilt für die Entgeltfortzahlung?
Nach dem Lohnausfallprinzip wird der Arbeitnehmer so gestellt, wie er voraussichtlich gearbeitet hätte, wäre er nicht erkrankt. Ausgenommen von diesem Grundsatz sind Überstundenvergütungen und Zulagen aufgrund des Wesens der Arbeitstätigkeit wie etwa eine Schmutzzulage.
Die Länge der Entgeltfortzahlung bemisst sich sowohl an der Länge der einzelnen Erkrankung als auch nach der Art der Erkrankungen über das Jahr hinweg. Das bedeutet, dass grundsätzlich für den Zeitraum von bis zu sechs Wochen das Entgelt nach dem oben beschriebenen Lohnausfallprinzip fortgezahlt wird. Bei der ersten Erkrankung ist dies unproblematisch festzustellen. Ferner beginnt der Sechs-Wochen-Zeitraum bei jeder neuen Erkrankung erneut anzulaufen. Allerdings ist nicht jede erneute Erkrankung auch eine neue Erkrankung: Voraussetzung hierfür ist, dass der Arbeitnehmer entweder eine völlig neuartige Erkrankung hat oder aber die bisherige Erkrankung vollständig ausgeheilt war. Leidet der Arbeitnehmer hingegen unter einer dauerhaften Grunderkrankung, so dass er zwar zwischenzeitlich (leidlich) arbeitsfähig ist, das Grundleiden aber nicht vollständig auskuriert ist, werden die Krankheitszeiträume addiert. Ein neuer Entgeltfortzahlungszeitraum beginnt dann erst entweder nach sechs Monaten, in denen keine Arbeitsunfähigkeit aufgrund der Grunderkrankung vorlag oder nach zwölf Monaten seit Beginn der ersten Arbeitsunfähigkeit mit dieser Erkrankung (§ 3 Abs. 1 S. 2 EFZG).
Warum sind angrenzende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ein Sonderfall?
Eine Besonderheit ist die so genannte Einheit des Verhinderungsfalls. Dies ist der Fachbegriff für den Umstand, dass grundsätzlich an einen abgelaufenen sechswöchigen Entgeltfortzahlungszeitraum kein weiterer Entgeltfortzahlungszeitraum nahtlos angehangen wird, egal, welche Ursache(n) diesem Entgeltfortzahlungszeitraum zugrundelag(en). Das bedeutet, dass auch falls der erste Entgeltfortzahlungszeitraum auf einer anderen Ursache beruht als der zweite, der Arbeitnehmer die volle Beweislast dafür trägt, zwischen diesen Zeiträumen wenigstens kurze Zeit genesen und arbeitsfähig gewesen zu sein. Das ist bei angrenzenden Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen überaus schwierig, so dass der Arbeitgeber im Regelfall die Entgeltfortzahlung nach sechswöchiger Dauer einstellen wird.
Kann der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert werden?
Die ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung hat wie oben beschrieben einen hohen Beweiswert. Zweifelt der Arbeitgeber an der Richtigkeit, muss er in einem Rechtsstreit zunächst diesen Beweiswert erschüttern, bevor sich die Darlegungslast auf den Arbeitnehmer verlagert. Erst wenn dies gelingt, ist der Arbeitnehmer also gehalten, näher zu seiner Erkrankung vorzutragen und beispielsweise seinen behandelnden Arzt von der Schweigepflicht zu entbinden, um den Beweis zu führen, dass er tatsächlich arbeitsunfähig erkrankt war. Die Erschütterung des Beweiswertes kann etwa gelingen, wenn der Arbeitnehmer während des Arbeitsunfähigkeitszeitraums auf sozialen Medien Inhalte verbreitet, die mit keiner Form von Erkrankung in Übereinstimmung zu bringen sind („ab zum Arzt und dann Koffer packen“-Fall). Eine weitere Möglichkeit hat nun das Bundesarbeitsgericht festgestellt:
Was war passiert? Kündigungsfrist und Arbeitsunfähigkeitszeitraum identisch
Die spätere Klägerin war für einen Zeitraum von ca. sechs Monaten bei einer Personalvermittlung als kaufmännische Angestellte beschäftigt. Am 08.02.2019 überreichte Sie Ihrem Arbeitgeber zugleich ihre Kündigung sowie eine auf denselben Tag datierte ärztliche Arbeitsunfähigkeit mit einem voraussichtlichen Arbeitsunfähigkeitszeitraum bis zum 22.02.2019, dem letzten Tag der Kündigungsfrist.
Der Arbeitgeber leistete für diesen Zeitraum keine Entgeltfortzahlung mit dem Argument, der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung sei aufgrund des passgenauen Zeitraums der Arbeitsunfähigkeit erschüttert. Die Arbeitnehmerin klagte auf Zahlung.
Im Prozess ergab sich, dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung auf der Diagnose „Sonstige und nicht näher bezeichnete Bauchschmerzen“ beruhte. Die Arbeitnehmerin gab hierzu einen psychosomatischen Hintergrund an, basierend auf Mobbing-Erfahrungen im Betrieb bestanden, was zu Schlafstörungen und weiteren psychisch-körperlichen Beeinträchtigungen geführt habe. Sie hat aber keine näheren Angaben zu Intensität, Art und Schwere der weiteren gesundheitlichen Beeinträchtigungen gemacht.
Das Urteil: Arbeitnehmer trifft bei passend datierter Arbeitsunfähigkeit die Beweislast
Das Gericht gab dem Arbeitgeber Recht und urteilte, dass für den Zeitraum von Kündigung bis Ablauf der Kündigungsfrist keine Entgeltfortzahlung zu leisten war (Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 08.09.2021, Az. 5 AZR 149/21). Zur Begründung führte das Gericht aus, dass zwar die ordnungsgemäß ausgestellte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung das gesetzlich ausdrücklich vorgesehene und insoweit wichtigste Beweismittel für das Vorliegen krankheitsbedingter Arbeitsunfähigkeit sei und ein Gericht daher normalerweise den Beweis einer krankheitsbedingten Arbeitsunfähigkeit als erbracht ansehen kann. Gelingt es jedoch dem Arbeitgeber, den Beweiswert der ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern, so tritt hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast wieder derselbe Zustand ein, wie er vor Vorlage der Bescheinigung bestand. Es ist dann Sache des Arbeitnehmers, konkrete Tatsachen darzulegen und im Bestreitensfall zu beweisen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen. Dass die Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mit der Diagnose „Sonstige und nicht näher bezeichnete Bauchschmerzen“ sich auf einen Zeitraumraum von 15 Tagen und damit bis zum Kündigungstermin erstreckte und außerdem zeitgleich mit der Kündigung eingereicht wurde, hat das Bundesarbeitsgericht in seiner Gesamtheit als wesentlich gewertet, so dass der Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert war.
Die Arbeitnehmerin musste also zumindest laienhaft bezogen auf den gesamten Entgeltfortzahlungszeitraum schildern, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden haben. Aufgrund der im Rechtsstreit lediglich erfolgten pauschalen Angaben der Arbeitnehmerin fehlte es nach Ansicht des Gerichts an substantiiertem Vortrag zu den konkreten gesundheitlichen Beschwerden und Einschränkungen, deren Intensität und ihren Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit. Die Arbeitnehmerin ist damit der – nun wieder ihr obliegenden – Darlegungslast nicht nachgekommen. Ihre Arbeitsunfähigkeit war somit nicht belegt, so dass ihr kein Anspruch auf Entgeltfortzahlung zukam.
Fazit
Dass eine „passgenaue“ Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung bei Arbeitgebern Misstrauen auslöst, ist nachvollziehbar und wurde von dem höchsten deutschen Arbeitsgericht auch entsprechend aufgenommen. In dem hier entschiedenen Fall kam hinzu, dass die Arbeitnehmerin sich nur überaus knapp einließ und ihren behandelnden Arzt nicht hinzuzog, um ihre tatsächliche Arbeitsunfähigkeit nachzuweisen. Hätte sie konkretere Angaben gemacht und / oder eine entsprechende ärztliche Stellungnahme eingereicht, ist durchaus denkbar, dass der Fall anders entschieden worden wäre. Arbeitgebern ist in aller Regel weder die der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zugrundeliegende Diagnose bekannt noch lässt sich voraussagen, wie ein Arbeitnehmer in einem etwaigen Rechtsstreit agiert. Mit dem aktuellen Urteil kann im Fall einer in zeitlicher Hinsicht auffälligen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung allerdings durchaus erwogen werden, die Entgeltfortzahlung unter Inkaufnahme eines gewissen Prozessrisikos einzustellen.
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