Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 20.02.2019 (Az. 2 AZR 746/14)
Wenn Sie in einem katholischen Krankenhaus behandelt werden, konnten Sie sicher sein, dass ihr behandelnder Arzt bzw. ihre behandelnde Ärztin entweder „verheiratet“, „ledig“ oder eventuell auch „geschieden“ ist, aber nicht „verheiratet in zweiter (dritter, vierter…) Ehe“. Bis im Jahr 2008 ein Chefarzt eines katholischen Krankenhauses einige Zeit nach seiner Scheidung seine neue Partnerin standesamtlich heiratete. Diese Ehe konnte aus Sicht der katholischen Kirche, welche Scheidungen nicht anerkennt, nicht gültig geschlossen werden. Das Leben in „kirchlich ungültiger Ehe“ war als ausdrücklicher Kündigungsgrund geregelt und so kündigte der kirchliche Arbeitgeber. Hiergegen klagte der Arzt unter anderem mit dem Argument, dass bei seinen evangelischen Berufskollegen Wiederheiraten folgenlos bleiben. Die katholische Kirche beharrte auf ihrem Standpunkt. Nach vielen Jahren und Instanzen ist dieser Rechtsstreit nun entschieden.
Kirchliche Arbeitsverhältnisse sind besonders
Dazu muss man wissen: Die arbeitsrechtlichen Befugnisse kirchlicher Arbeitgeber sind erweitert. Diese können beispielsweise die Religionszugehörigkeit ihrer Bewerber schon vor der Einstellung abfragen und manchmal (in Zukunft weniger häufig) auch die Einstellung davon abhängig machen – im Gegensatz zu „weltlichen“ Arbeitgebern. Diese und andere Freiheiten ergeben sich aus dem grundgesetzlich geregelten Selbstbestimmungsrecht der Kirchen: Auch als Arbeitgeber sind diese innerhalb der eigenen Angelegenheiten ihrer Religionsgemeinschaft tätig.
Können kirchliche Arbeitgeber „Treue zur Kirche“ für jeden ihrer Beschäftigten fordern? Jein. Auch die Bewerber/innen und Angestellten haben ja Rechte, unter anderem das Grundrecht auf Religionsfreiheit und freie Entfaltung der Persönlichkeit. Diese Rechte werden nicht am Betriebseingang abgegeben, müssen aber mit dem Selbstbestimmungsrecht des kirchlichen Arbeitgebers in Einklang gebracht werden. Daher haben die Kirchen eine Sonderregelung in dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) erhalten. Dort ist zum einen geregelt, dass eine unterschiedliche Behandlung wegen der Religion, also z.B. Einstellung bzw. Nichteinstellung, zulässig ist, wenn eine bestimmte Religion unter Beachtung des Selbstverständnisses der jeweiligen Religionsgemeinschaft oder nach der Art der Tätigkeit eine gerechtfertigte berufliche Anforderung darstellt (§ 9 Abs. 1 AGG). Zum anderen wird den Kirchen das Recht vorbehalten, von ihren Beschäftigten ein loyales und aufrichtiges Verhalten im Sinne ihres jeweiligen Selbstverständnisses verlangen zu können. Gerechtfertigt ist das Verlangen einer bestimmten Konfession und eines in dieser Hinsicht loyalen Lebenswandels unzweifelhaft bei Personen, die konkret kirchliche Arbeit verrichten, allen voran die Geistlichen. Bei vielen anderen Personen – wie etwa unserem Chefarzt – wird man das diskutieren können. Und damit wird man auch diskutieren können, ob dieser an das Verlangen eines „loyalen und aufrichtigen Verhaltens“ im Sinne des katholischen Selbstverständnisses gebunden war.
Erstens: Die Arbeitsgerichte
Arbeitsgericht (erste Instanz), Landesarbeitsgericht (zweite Instanz) und schließlich im Jahr 2011 das Bundesarbeitsgericht (dritte Instanz, Urteil vom 08.09.2011, Az. 2 AZR 543/10) gaben dem Kläger zunächst Recht und erklärten die Kündigung für unwirksam. Die Gerichte argumentierten mit dem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens.
Zweitens: Das Bundesverfassungsgericht
Die durch die Kirche eingereichte Verfassungsbeschwerde war erfolgreich: Das Urteil des Bundearbeitsgerichts wurde aufgehoben und der Rechtsstreit an das Gericht zurückverwiesen. Das Bundesverfassungsgericht begründete diesen Beschluss mit dem Vorrang des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts gegenüber dem Recht des Klägers auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 22.10.2014, Az. 2 BvR 661/12).
Drittens: Der Europäische Gerichtshofs
Das Bundesarbeitsgericht folgte nicht dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, sondern rief den Europäischen Gerichtshof (EuGH) an. Dieses ist zuständig für die Auslegung des Europäischen Rechts. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) beruht auf der europäischen Gleichbehandlungsrichtlinie (RL 2000/78/EG). Art. 4 UA 2 dieser Richtlinie sieht vor, dass die Kirche bei dem Verlangen nach loyalem Verhalten unterscheiden darf zwischen Arbeitnehmern, die der betreffenden Kirche angehören und solchen, die einer anderen oder keiner Kirche angehören. Der EuGH urteilte, dass der Beschluss einer Kirche, an ihre leitenden Beschäftigten je nach Konfession unterschiedliche Auffassungen an das loyale und aufrichtige Verhalten zu stellen, Gegenstand gerichtlicher Kontrolle sein kann. Bei dieser Kontrolle habe das nationale Gericht sicherzustellen, dass die Religion oder die Weltanschauung im Hinblick auf die Art der betreffenden beruflichen Tätigkeiten oder die Umstände ihrer Ausübung eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung angesichts des jeweiligen Ethos ist. Der EuGH wies darauf hin, dass die Akzeptanz des kirchlichen Eheverständnisses in Anbetracht der Tätigkeit des Chefarztes als Leiter der Abteilung „Innere Medizin“ nicht notwendig bzw. nicht gerechtfertigt zu sein scheint. Dies ergebe sich unter anderem daraus, dass in ähnlichen Stellen Beschäftigte arbeiteten, die nicht katholischer Konfession sind. Das deutsche Gesetz sei in Anbetracht dieser Einschätzung so richtlinienkonform wie möglich auszulegen (Urteil des EuGH vom 11.09.2018, Az. C-68/17).
Viertens: Wieder das Bundesarbeitsgericht
Mit dieser Einschätzung des EuGH „im Rücken“ hatte das Bundesarbeitsgericht den Rechtsstreit ein weiteres Mal zu entscheiden. Das Bundesarbeitsgericht entschied wiederum, dass die Kündigung mit der Begründung der Wiederverheiratung ungültig war und das Arbeitsverhältnis daher fortbesteht. Nach Ansicht des Gerichts hat der Kläger keine wirksam vereinbarte Loyalitätspflicht verletzt und auch keine berechtigte Loyalitätserwartung des kirchlichen Arbeitgebers enttäuscht. Das Gericht begründete das Urteil im Einzelnen damit, dass das Unionsrecht (Europarecht) Vorrang vor dem nationalen Recht hat und § 9 AGG in dem von EuGH genannten Sinn unionsrechtskonform auszulegen ist. Aufgrund der Tätigkeiten des Klägers als leitender Arzt war die Anforderung, keine nach katholischer Sichtweise ungültige Ehe zu schließen, nicht gerechtfertigt. Die Auslegung des Europäischen Gerichtshofs kann nach Auffassung des Bundesarbeitsgerichts auch in § 9 AGG hereingelesen werden, ohne den Wortlaut zu überdehnen (Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 20.02.2019, Az. 2 AZR 746/14).
Fazit: Auf die Tätigkeiten kommt es an
In der Folge entbindet das Urteil den Großteil der kirchlich Beschäftigten von religiös geprägten Verhaltensanforderungen. Von den Mitarbeitern, die direkt kirchlich tätig werden, vor allem also Geistliche bzw. Diakone, Religionspädagogen etc., darf der kirchliche Arbeitgeber nach wie vor die Einhaltung des Glaubensverständnisses der jeweiligen Institution verlangen. Für die meisten anderen Beschäftigten dürfte es nach dem aktuellen Urteil nicht mehr zu rechtfertigen sein, eine Ausrichtung des Privatlebens an bestimmten religiösen Überzeugungen zu verlangen. Der EuGH und das Bundesarbeitsgericht verlangen hierfür, dass es sich bei diesem Verlangen um eine wesentliche, rechtmäßige und gerechtfertigte berufliche Anforderung handelt. Wenn dies für einen leitenden Oberarzt verneint wird, welcher sowohl Vorgesetztenfunktion als auch Patientenkontakt hat, wird voraussichtlich gleiches für sämtliches Krankenpflegepersonal, Kinderbetreuungspersonen und die weiteren „üblichen Beschäftigten“ in kirchlichen Arbeitsverhältnissen gelten.
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