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Mann übergibt Umschlag an einen anderen
22. Januar 2021 / by Kanzlei Kerner

Ein Arbeitsverhältnis ist mehr als die Summe seiner Teile

Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 01.12.2020

Zur Arbeitnehmereigenschaft von Crowdworkern

Für viele Arbeitsverhältnisse stellt sich die Frage der Arbeitnehmereigenschaft nicht: Wenn Sie in einen fremden Betrieb eingebunden sind und dort zu bestimmten Zeiten Arbeiten erledigen, die Ihnen aufgetragen werden, sind Sie Arbeitnehmer.

Gerade die moderneren Formen der Arbeitswelt halten allerdings auch Konstellationen bereit, in denen der Fall nicht so klar liegt. Die Abgrenzung zwischen einem Arbeitsverhältnis und der so genannten freien Mitarbeit ist sehr bedeutsam, die Folgen können gerade für den Arbeitgeber gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Denn wenn der vermeintlich freie Mitarbeiter gar kein solcher ist, weil er etwa der einzige Auftragnehmer des „Auftraggebers“ ist, zu bestimmten Zeiten an einem bestimmten Ort zu erscheinen und dort nach Anweisung Dinge zu erledigen oder gar in einem Team zu arbeiten hat, er womöglich für den „Auftraggeber“ nach außen auftritt und dafür ein vorher festgelegtes „Honorar“ erhält, muss der überraschte Arbeitgeber im Streitfall für den gesamten zurückliegenden Zeitraum dieses Arbeitsverhältnisses bis zur Verjährungsgrenze die Sozialversicherungsabgaben plus Säumniszuschläge in einer Summe zahlen. Denn Arbeitnehmer ist, wer aufgrund vertraglicher Bindung unselbständig und fremdbestimmt Dienstleistungen erbringt und das ist in dem geschilderten Beispiel der Fall, ganz gleich, was im „Honorarvertrag“ steht. Und nein, vom Arbeitnehmer, der vermutlich ein deutlich höheres „Honorar“ erhalten hat als das Gehalt eines vergleichbaren Arbeitnehmers, kann sich der Arbeitgeber diese Beiträge nicht zurückholen. Und damit nicht genug, der vermeintliche Auftragnehmer kann auf Feststellung eines unbefristeten Arbeitsverhältnisses klagen.

So klar wie hier beschrieben liegt der Fall allerdings ebenfalls nicht immer, die Grauzone ist vielmehr die Regel. So ist die Abgrenzung im Einzelfall oft schwierig und aus diesem Grund Gegenstand zahlreicher Rechtsstreitigkeiten. So kam es, wie es kommen musste: Die Arbeitsgerichte hatten in der jüngeren Vergangenheit eine neue Arbeitsform auf genau diese Frage hin zu untersuchen: die so genannten crowdworker.

Was ist Crowdwork?

Crowdwork heißt wörtlich übersetzt Massenarbeit und bezeichnet eine Arbeitsform, in der viele Einzelne auf einer Plattform mehr oder minder unabhängig voneinander in externer Abarbeitung Ergebnisses liefern („Mikrojobs“). Crowdwoker schließen in der Regel einen Rahmenvertrag mit der Plattform ab, die von dem „crowdsourcer“ betrieben wird. Dieser beinhaltet für gewöhnlich insbesondere AGB, nach denen der Crowdworker zur Wahrung steuer- und sozialversicherungsrechtlicher Vorgaben in Eigenregie verpflichtet wird. Für jeden Einzelauftrag wird regelmäßig ein weiterer Vertrag geschlossen, so dass einem Arbeitsauftrag stets zwei Verträge zugrunde liegen. Die Art der zu leistenden Tätigkeit kann ganz unterschiedlich sein; manche Aufträge setzen spezielle Kenntnisse voraus, andere Aufträge wie beispielsweise das Testen eines kleinen Internetspiels können von nahezu jedermann erbracht werden. Der Crowdworker ist nicht verpflichtet, bestimmte oder überhaupt Arbeitsaufträge anzunehmen, sondern kann frei aus dem Angebot auf der Plattform wählen.

Urteil des Landesarbeitsgericht München: Crowdworker sind keine Arbeitnehmer

In einem Ende 2019 durch das Landesgericht München entschiedenen Fall hatte der Crowdworker auf Feststellung eines Arbeitsverhältnisses mit der Crowdsourcing-Plattform geklagt. Er hatte bis dato knapp 3.000 Kleinaufträge zur Kontrolle der Präsentation von Markenprodukten an Tankstellen übernommen (z.B. Fotos von Produktregalen anfertigen, Fragen zu einer Produktwerbung beantworten). Die wöchentliche Tätigkeitszeit betrug ca. 20 Stunden, die Vergütung durchschnittlich 1.750,00 € monatlich. Nach den AGB hätte der spätere Kläger das Recht gehabt, Unteraufträge zu erteilen; es bestand also keine Pflicht, die Aufträge persönlich durchzuführen. Hatte er einen Auftrag übernommen, standen ihm zwei Stunden Zeit zur Erledigung zur Verfügung, wobei auch die Möglichkeit bestand, einen übernommenen Auftrag abzubrechen. Für erledigte Aufträge erhielt der Crowdworker Erfahrungspunkte gutgeschrieben, wobei er mit ansteigendem Level mehr, größere und komplexe Aufträge übernehmen konnte. Eine Kündigung des Rahmenvertrags war jederzeit beiderseits ohne Angabe von Gründen möglich. Im Februar 2018 hatte ihm der Crowdsourcer mitgeteilt, ihm zur Vermeidung künftiger Unstimmigkeiten keine weiteren Aufträge mehr anzubieten.

Das Landesarbeitsgericht begründete die Abweisung der Klage damit, dass der Kläger selbst bestimmen konnte, ob, wie viele und welche Aufträge er übernehmen wollte und diese dann auch abbrechen konnte. Er war also nicht grundsätzlich zur Leistung verpflichtet (Urteil des LAG München v. 04.12.2019, Az. 8 Sa 146/19). Der Account des Klägers wurde bei Untätigkeit auch nicht deaktiviert oder sein Status abgewertet, so dass der Crowdsourcer aus Sicht des Gerichts keinen Druck zum Tätigwerden aufbaute. Sodann sei der Kläger auch nicht in den Betrieb der Beklagten eingegliedert worden oder habe sonst in persönlicher Abhängigkeit zur Beklagten gestanden. Das Landesarbeitsgericht hatte die Revision zum Bundesarbeitsgericht zugelassen, über welche kürzlich – und zwar anders – entschieden wurde.

Urteil des Bundesarbeitsgerichts: Crowdworking kann ein Arbeitsverhältnis sein

Anders als die Vorinstanzen urteilte das Bundesarbeitsgericht, dass die Tätigkeit des Crowdworkers im obigen Fall ein Arbeitsverhältnis dargestellt hat (Urteil des BAG vom 01.12.2020, Az. 9 AZR 102/20). Dies ergab nach Ansicht des Gerichts die Gesamtwürdigung aller Umstände. So habe der Kläger seine Tätigkeit nach Ort, Zeit und Inhalt nicht frei gestalten können. Er sei tatsächlich nicht zur Annahme von Aufträgen verpflichtet gewesen. Die Organisationsstruktur der von der Beklagten betriebenen Online-Plattform sei aber darauf ausgerichtet gewesen, dass über einen Account angemeldete und eingearbeitete Nutzer kontinuierlich Bündel einfacher, Schritt für Schritt vertraglich vorgegebener Kleinstaufträge annehmen, um diese – so sah es das Gericht – persönlich zu erledigen. Erst ein mit der Anzahl durchgeführter Aufträge erhöhtes Level im Bewertungssystem habe es dem Kläger ermöglicht, gleichzeitig mehrere Aufträge anzunehmen, um diese auf einer Route zu erledigen und damit faktisch einen höheren Stundenlohn zu erzielen. Durch dieses Anreizsystem sei der Kläger dazu veranlasst worden, in dem Bezirk seines gewöhnlichen Aufenthaltsorts kontinuierlich Aufträge anzunehmen und zu erledigen. Der Fall wurde lediglich noch zur Feststellung der noch geschuldeten Vergütung wieder an das Landesarbeitsgericht zurückverwiesen.

Fazit

Eigentlich arbeiten die gängigen AGB der Crowdworking-Online-Plattformen nahezu alle Punkte einer freien Mitarbeit ab: Freie Wahl der Auftragsannahme und sogar die Möglichkeit, begonnene Aufträge ohne Begründung abzubrechen, keine Pflicht zur höchstpersönlichen Erbringung der Dienstleistung, keine Eingliederung in die betrieblichen Strukturen und beiderseitige sofortige Kündigungsmöglichkeit. Wenn hier nichts hinzutritt, bedarf es schon einiger Mühe, ein Arbeitsverhältnis zu konstruieren. Der Plattform im aktuell entschiedenen Fall fiel in dieser Hinsicht das Level-System mit der Möglichkeit, mit zunehmender Erfahrung mehrere Aufträge zugleich erledigen zu können, auf die Füße. Dieses begründete nach Ansicht des Bundesarbeitsgerichts ein Anreiz- und damit auch mittelbar ein Abhängigkeitssystem. Dieses Ergebnis hätte – wie die Vorinstanzen zeigen – auch anders ausfallen können, wobei Arbeitgeber gewarnt sein sollten: Wenn die Konstruktion eines Arbeitsverhältnisses möglich ist, neigen sowohl höchstinstanzliche Sozial- als auch Arbeitsgerichte dazu, dieses auch anzunehmen. Die künftige Rechtsprechung wird zeigen, ob das Bundesarbeitsgericht diese Linie im Fall von Crowdworkern weiter verfolgt und im Übrigen gilt wie stets: Jeder Fall ein Einzelfall, und: Sprechen Sie im Zweifelsfall rechtzeitig mit dem Profi!

Haben Sie Fragen zu dem Thema Arbeitsverhältnis? Wir helfen Ihnen gerne weiter.

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Bildhinweis: khwanchai / adobe-stock.com


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