Wegen ostdeutscher Herkunft „stigmatisiert und gedemütigt“ – Anspruch auf Entschädigung?
Urteil des Arbeitsgerichts Berlin vom 15.08.2019
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz nimmt im Bewerbungsverfahren und in laufenden Arbeitsverfahren den Arbeitgeber in die Pflicht. Die folgenden Benachteiligungen sind verboten: Benachteiligungen aus Gründen der Rasse oder wegen der ethnischen Herkunft, des Geschlechts, der Religion oder Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Identität.
Nun ist ziemlich klar, was mit Benachteiligung wegen des (Lebens-)Alters gemeint ist: Weder alt noch jung dürfen gegenseitig benachteiligt werden. Der Arbeitgeber hat sich also „altersneutral“ zu verhalten. Gleiches gilt für Geschlecht, Religion, Weltanschauung und sexuelle Identität der Mitarbeiter. Das Handeln des Arbeitgebers hat geschlechtsneutral und unabhängig von religiöser Ausrichtung und / oder philosophischer bzw. weltanschaulicher Haltung zu erfolgen (zu den Ausnahmen siehe z.B. hier).
Zu den Begriffen Rasse* bzw. ethnische Herkunft fällt einem in der Regel ein, dass es keine Diskriminierung wegen der Hautfarbe oder andersartigem Äußeren (im Verhältnis zum Arbeitgeber oder dessen Maßstab an „normales“ Äußeres) geben darf. Das ist auch richtig, aber ist das schon alles? Wohl nicht, denn von Äußerlichkeiten steht im Gesetz nichts, was für diese Fälle ja gereicht hätte. Was genau ist also eine Ethnie? Ist hier die Sprache entscheidend; gehört also ein Niederländer einer im Verhältnis zu einem Deutschen anderen Ethnie an? Oder beginnt auch unabhängig von der Sprache an der Ländergrenze eine andere Ethnie? Dann könnte man auch sagen, die Ethnie beginnt bzw. endet an den Grenzen des Bundeslandes; ein Schwabe hätte also eine andere ethnische Herkunft als ein Nordrhein-Westfale. Das ist nicht nur ein akademisches Begriffsspiel, es geht um Geld: Bei bis zu drei Gehältern bei Nichteinstellung und nach oben offenem Schadenersatz bei Diskriminierung im laufenden Arbeitsverhältnis aufgrund der Ethnie kann man sich diese Frage schon einmal stellen. Schauen wir mal in die vergangene und aktuelle Rechtsprechung zum Thema Ethnie, in der auch das Thema „Bundesland“ bzw. „Landesteil“ schon besprochen wurde:
*Es ist verständlich, wenn Ihnen das Wort Rasse nicht behagt. Der Erwägungsgrund Nr. 6 der Antidiskriminierungsrichtlinie, aus welcher sich das AGG ableitet, stellt klar, dass die Verwendung des Begriffs Rasse nicht bedeutet, Theorien zu akzeptieren, mit denen versucht wird, die Existenz verschiedener menschlicher Rassen zu begründen. Es ist vielmehr so, dass derjenige ebendies annimmt, der sich „rassistisch“ verhält. In anderen Mitgliedstaaten heißt es daher auch „vorgebliche Rasse“ oder der Begriff wird vollständig vermieden und ausschließlich auf die ethnische Herkunft abgestellt. So wird es auch in diesem Blogbeitrag sein, da auch der Europäische Gerichtshof nicht zwischen den Begriffen trennt und der Begriff Rasse daher für die hier besprochene rechtliche Bewertung nicht relevant ist.
Anforderung „Deutsch als Muttersprache“
Das Landesarbeitsgericht Hessen hat im Jahr 2015 entschieden, dass die Anforderungen „Deutsch als Muttersprache“ in einer Stellenbeschreibung für eine Büroaushilfe gegen das AGG verstößt. Der Arbeitgeber wurde zu einer Entschädigungszahlung in Höhe von zwei Monatsgehältern verurteilt. Zur Begründung führte das Gericht aus, dass es sich bei der Anforderung um eine unmittelbare Benachteiligung wegen der ethnischen Herkunft handele. Die Anforderung „Deutsch als Muttersprache“ schließe alle Bewerber aus, die nicht der deutschen Ethnie zugehörig seien (Hess. LAG, Urteil vom 15.0.2015, Az. 16 Sa 1619/14).
Anforderung „Sehr gutes Deutsch“
Ist hingegen in einer Stellenausschreibung „sehr gutes Deutsch“ gefordert und verlangt die annoncierte Stelle tatsächlich sehr gute Deutschkenntnisse, handelt es sich nicht um eine Diskriminierung wegen der ethnischen Herkunft nach dem AGG. Zur Begründung führte das Gericht aus, dass sich die Anforderung lediglich auf die Sprache bezöge, aber nicht verlange, dass der Bewerber Deutscher sei. Auch unabhängig von der ethnischen Herkunft ließen sich die geforderten Sprachkenntnisse erwerben (LAG Nürnberg, Urteil vom 05.10.2011, Az. 2 Sa 171/11).
Aufforderung zum Sprachkurs
Ebenso ist es keine Diskriminierung wegen der ethnischen Herkunft, wenn der Arbeitgeber seine kroatisch-stämmige Mitarbeiterin auffordert, einen Deutschkurs zu absolvieren, um die für ihre Tätigkeit erforderlichen Sprachkenntnisse zu erwerben. Die Klägerin war wegen der Nichtbefolgung dieser Aufforderung abgemahnt worden und hatte daraufhin Klage auf Entschädigung nach dem AGG erhoben. Diese wurde mit der Begründung abgelehnt, der Arbeitgeber sei berechtigt, Mitarbeiter zu Sprachkursen zu verpflichten, wenn die Aufgaben dies erfordern. Hierbei handele es sich nicht um eine Diskriminierung (BAG, Urteil vom 22.06.2011, Az. 8 AZR 48/10).
Der „Minus-Ossi“-Fall
Eine Entschädigung nach dem AGG wurde auch abgelehnt, als eine Bewerberin ihre Bewerbungsunterlagen mit dem Vermerk „(-) OSSI“ zurückgesandt bekam. Das Gericht kam zu dem Schluss, dass die Bezeichnung der Klägerin als „Ossi“ diskriminierend sein könnte. Jedoch handele es sich bei Menschen aus Ostdeutschland nicht um eine Ethnie im Sinne des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Dies setze voraus, dass Menschen durch ihre Herkunft, Geschichte, Kultur, Verbindung zu einem spezifischen Territorium und ein Gefühl der Solidarität verbunden seien. Kennzeichen hierfür seien Tradition, Sprache, Religion, Kleidung oder gleichartige Ernährung. Davon erfüllten die Ostdeutschen nur das Kriterium des gemeinsamen DDR-Territoriums. Es fehle jedoch an den restlichen Merkmalen (Arbeitsgericht Stuttgart, Urteil vom 15.04.2010, Az. 17 Ca 8907/09). Ein halbes Jahr später verglichen sich die Parteien ohne nähere Erklärung vor dem Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg.
Vielleicht, weil damals kein Präzedenzfall geschaffen wurde, kam die Frage aktuell vor dem Arbeitsgericht Berlin erneut auf:
Stellvertretender Ressortleiter wird als Ostdeutscher herabgewürdigt
Geklagt hatte der stellvertretende Ressortleiter eines Zeitungsverlages. Er verlangte von seinem Arbeitgeber Entschädigung, Schadenersatz und Schmerzensgeld. Zur Begründung trug er vor, von zwei ihm vorgesetzten Mitarbeitern aufgrund seiner ostdeutschen Herkunft diskriminiert worden zu sein. Der Streitwert betrug ca. 800.000,00 €.
Das aktuelle Urteil: Keine Ethnie und nicht rechtzeitig reagiert
Der geltend gemachte Anspruch nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz scheiterte daran, dass Menschen ostdeutscher Herkunft nach Ansicht des Gerichts nicht Mitglieder einer ethnischen Gruppe oder Träger einer einheitlichen Weltanschauung seien. Sie zu diskriminieren löste daher keinen Schadenersatzanspruch nach dem AGG aus. Für die genaueren Ausführungen muss die schriftliche Begründung des Urteils abgewartet werden, welche aktuell noch nicht vorliegt (es erscheint aber möglich, dass gleichartig zu dem Urteil des Arbeitsgerichts Stuttgart im „Ossi-Minus“-Fall argumentiert wurde). Auch die übrigen Ansprüche (Persönlichkeitsverletzung, Gesundheitsverletzung, Mobbing) wurden zurückgewiesen. Hierzu führte das Gericht aus, dass der Kläger den Arbeitgeber nicht rechtzeitig auf das diskriminierende Verhalten aufmerksam gemacht habe. Hierdurch sei ihm ein Mitverschulden zuzurechnen, welches die Ersatzpflicht des gegebenenfalls eingetretenen Schadens durch den Arbeitgeber entfallen gelassen habe (Arbeitsgericht Berlin, Urteil vom 15.08.2019, Az. 44 Ca 8580/18).
Fazit: Nicht jedes Hemmnis auf dem Arbeitsmarkt ist entschädigungspflichtig
Die wenigsten Menschen, Kollegen und Personaler eingeschlossen, gehen vorurteilsfrei durchs Leben. Nicht jede offene oder versteckte Diskriminierung ist allerdings entschädigungspflichtig. Einen Bewerber wegen einer zu großen Nase oder eine Bewerberin wegen ein paar Kilo zu viel nicht einzustellen, ist rechtlich legitim (wenn auch moralisch zweifelhaft). Und ebenso, jedenfalls nach aktuellem Stand, einen Bewerber oder Kollegen als „Ossi“ zu bezeichnen. Nehmen solche Diskriminierungen jedoch massive Züge an und stellen schließlich im laufenden Arbeitsverhältnis Mobbing dar, kann eine Entschädigungspflicht entstehen. Hier muss sich der Arbeitgeber schützend vor den oder die betroffenen Mitarbeiter/in stellen, sobald er von den Umständen erfährt.
Achtung: Ausschlussfrist
Wenn Sie Ansprüche nach dem AGG erwägen, sollten Sie diese nicht auf die lange Bank schieben: Der Anspruch muss innerhalb einer Frist von zwei Monaten schriftlich geltend gemacht werden. Die Frist beginnt im Falle einer Bewerbung oder eines beruflichen Aufstiegs mit dem Zugang der Ablehnung und in den sonstigen Fällen zu dem Zeitpunkt, in dem der oder die Beschäftigte von der Benachteiligung Kenntnis erlangt (§ 15 Abs. 4 AGG).
Haben Sie Fragen zu dem Thema Diskriminierung oder Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz? Wir helfen Ihnen gerne weiter.
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