Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 13.01.2022 (Az. C-514/20)
Überstunden sind die über die vorgesehene Arbeitszeit hinausgehende Arbeitsleistung, soweit sie angeordnet, gebilligt oder geduldet ist, der rechtlich korrekte Begriff ist „Mehrarbeit“.
Der Begriff der Anordnung von Überstunden durch den Arbeitgeber ist ziemlich klar, die Billigung ist die Anerkennung von Überstunden im Nachhinein, z.B. durch Abzeichnung auf einem Stundenzettel, und die Duldung ist das bewusste Hinnehmen der Ableistung von Überstunden, ohne dass Vorkehrungen zur Unterbindung getroffen werden.
Da Arbeitsleistung grundsätzlich in Geld auszugleichen ist, besteht auch für Überstunden zunächst einmal eine berechtigte Vergütungserwartung, wenn der Arbeitsvertrag nicht zulässigerweise vorsieht, dass eine gewisse Anzahl an Überstunden bereits mit dem Gehalt abgegolten ist. Zuschläge auf diese Vergütung für Mehrarbeit kennt das Gesetz allerdings nicht. Maßgeblich ist also zunächst der Stundenlohn, der auch für die reguläre Arbeitszeit anzusetzen ist. Weniger in Einzelarbeitsverträgen, dafür häufiger in Tarifverträgen sind allerdings gleichwohl Zuschläge für Mehrarbeit vorgesehen. Häufig beziehen sich diese Zuschläge auf eine bestimmte Stundenzahl; es wird also die Stundenzahl, welche nach dem Tarifvertrag eine Vollzeitbeschäftigung darstellt, zugrunde gelegt und die darüberhinausgehende Arbeitszeit als zuschlagspflichtige Überstunden definiert.
Beispiel: Ein Tarifvertrag sieht vor, dass die regelmäßig wöchentliche Arbeitszeit für Vollzeitbeschäftige 39 Stunden beträgt. Unter dem Punkt „Mehrarbeitszuschlag“ regelt der Tarifvertrag, dass ein Zuschlag in Höhe von 15 % auf die 40. bis 45. Stunde und ein Zuschlag von 25 % ab der 46. Stunde zu zahlen ist.
Neben der Frage, ob für Teilzeitbeschäftigte dieselbe Stundenzahl zugrunde zu legen ist wie für Vollzeitbeschäftigte (hier von uns besprochen), stellt sich die Frage, wie sich Urlaubszeiten auf solche Berechnungen auswirken. Zwar können während des Urlaubs selbst keine Überstunden anfallen, jedoch müsste der Urlaub mit der Soll-Arbeitszeit, z.B. acht Stunden täglich, in die Berechnung einzustellen sein. Oder kommt es auf die tatsächlich gearbeiteten Stunden an, so dass der Urlaub mit null Stunden zu Buche schlägt?
Das Bundesarbeitsgericht und aktuell der Europäische Gerichtshof haben sich mit dieser Frage befasst.
Mitarbeiter eines Zeitarbeitsunternehmens klagt auf Überstundenzuschläge
Geklagt hatte ein Mitarbeiter eines Zeitarbeitsunternehmens, auf dessen Arbeitsverhältnis der Manteltarifvertrag für Zeitarbeit anwendbar ist, der vorsah:
„Mehrarbeitszuschläge werden für Zeiten gezahlt, die in Monaten mit 23 Arbeitstagen über 184 geleistete [Stunden] hinausgehen.
Der Mehrarbeitszuschlag beträgt 25 Prozent.“
Als der Mitarbeiter sich im August 2017 zehn Tage bezahlten Urlaub nahm, blieben diese Tage bei der Berechnung der Arbeitsstunden, die für Überstundenzuschläge zu berücksichtigen sind, außer Betracht. Der Arbeitnehmer klagte auf Zahlung eines Zuschlags in Höhe von 25 % für 22,45 Stunden, also von 72,32 Euro, zu verurteilen, was der die Schwelle von 184 Stunden übersteigenden Arbeitszeit entspreche.
Der Arbeitgeber argumentierte, dass gemäß dem Wortlaut des Tarifvertrags bei der Feststellung, ob die Schwelle der normalen monatlichen Arbeitszeit vom Arbeitnehmer überschritten worden sei, nur die geleisteten Stunden angerechnet werden könnten. Unter „geleisteten Stunden“ seien tatsächlich erbrachte Arbeitsstunden zu verstehen, wovon Urlaubszeiten nicht erfasst seien.
Die Vorlage des Bundesarbeitsgerichts: Tarifvertrag vereinbar mit europäischem Recht?
Das Bundesarbeitsgericht legte dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Klage mit der Frage vor, ob die sog. Urlaubsrichtlinie (Richtlinie 2003/88) einer Regelung in einem Tarifvertrag entgegensteht, die vorsieht, dass nur die tatsächlich geleisteten Arbeitsstunden zu berücksichtigen sind (BAG, Beschluss vom 17.06.2020 – 10 AZR 210/19 (A)).
Zur Begründung dieser konkreten Vorlagefrage führte das höchste Deutsche Arbeitsgericht aus: Der Zweck des Mehrarbeitszuschlags bestehe gemäß dem Tarifvertrag darin, einen Ausgleich für eine besondere Arbeitsbelastung zu gewähren, die während des bezahlten Jahresurlaubs nicht auftrete, so dass der Zuschlag darauf abziele, den Arbeitnehmer dafür zu belohnen, dass er mehr als vertraglich vereinbart arbeite. Der Zuschlag sei also ein Anspruch, der durch Arbeit erworben werde, ohne dass Urlaubszeiten berücksichtigt werden könnten.
Allerdings könnten die Bestimmungen des Tarifvertrags einen Anreiz für Arbeitnehmer begründen, den bezahlten Mindestjahresurlaub nicht in Anspruch zu nehmen. Daher hatte das BAG Zweifel, ob das mit dem Tarifvertrag eingerichtete System, soweit es letztlich dazu führt, dass der Anspruch auf den Mehrarbeitszuschlag beschnitten wird, mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs vereinbar ist, nach der die Arbeitnehmer nicht davon abgehalten werden dürfen, ihren Anspruch auf bezahlten Mindestjahresurlaub geltend zu machen.
Urteil des EuGH: Urlaubszeiten sind mit einzubeziehen
Der EuGH stellte in seinem Urteil vom 13.01.2022 (Az. C-514/20) fest, dass ein Mechanismus zur Anrechnung von Arbeitsstunden wie im Tarifvertrag nicht mit dem in der sog. Urlaubsrichtlinie vorgesehenen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub vereinbar ist. Denn die Regelung könnte Arbeitnehmer davon abhalten, in Monaten, in denen Überstunden erbracht wurden, dann auch bezahlten Urlaub zu nehmen. Zweck des Anspruchs auf bezahlten Urlaub sei aber gerade die Vermittlung von Sicherheit, damit der Arbeitnehmer seinem Bedürfnis nach Erholung nachgehen könne, um seine Gesundheit zu schützen. Gegen dieses verstoße jede Regelung, die den Arbeitnehmer veranlassen könnte, von der Inanspruchnahme des Urlaubs abzusehen. Das Bundesarbeitsgericht ist nun aufgerufen, unter Berücksichtigung dieser Feststellungen ein Urteil in dem Rechtsstreit zu sprechen.
Fazit
Das Thema Urlaub in seinen verschiedenen Facetten zieht sich durch jedes Arbeitsverhältnis und ist in der arbeitsrechtlichen Praxis ein „Dauerbrenner“. Der EuGH urteilt dabei seit jeher überaus „urlaubsfreundlich“ und mithin arbeitnehmerfreundlich, so dass das aktuelle Urteil kaum überrascht. Das Urteil des EuGH bezieht sich konkret auf den Manteltarifvertrag der Zeitarbeit, der auf viele Arbeitsverhältnis Anwendung findet, wird aber darüber hinaus auch für etliche andere Tarifverträge mit gleichlautenden Klauseln Auswirkungen haben. Das BAG ist aktuell aufgerufen, den Rechtsstreit mit den Hinweisen des EuGH abschließend zu entscheiden. Mutmaßlich wird das BAG urteilen, dass die Klausel des Tarifvertrags, wonach für die Überstundenzuschlagsgrenze die tatsächlich geleisteten Stunden heranzuziehen sind, nicht mit dem höherrangigem europäischen Recht vereinbar und damit nicht anwendbar ist. Es ist mithin damit zu rechnen, dass sich künftig in der Berechnung der Überstundenzuschlagsgrenzen der Urlaub durch Einbeziehung der Soll-Arbeitszeit auswirkt.
Haben Sie Fragen zu den Themen Überstunden, Überstundenzuschläge oder Urlaub? Wir helfen Ihnen gerne weiter.
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