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11. Oktober 2024 / by Kanzlei Kerner

Neu definiert: Der Beweiswert von Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen

Urteil des Landesarbeitsgerichts Niedersachsen vom 18.04.2024 (Aktenzeichen 6 Sa 416/23)

Rekord bei krankheitsbedingten Fehlzeiten: Fast 20 Tage des Jahres 2023 waren Arbeitnehmer durchschnittlich krankgeschrieben. Klar: Der tatsächliche Krankenstand hängt von der persönlichen Konstitution, dem ausgeübten Beruf und der Lebenssituation ab, aber ganz ohne „gelben Schein“ bringt wohl kein Arbeitnehmer sein Erwerbsleben zu. Da wundert es wenig, dass das Bundesarbeitsgericht über Erkrankungen im Arbeitsverhältnis und ihre rechtlichen Folgen stets aufs Neue zu urteilen hat.

Neue Rahmenbedingungen hat das Landesarbeitsgericht Niedersachsen nun zur Aussagekraft des „gelben Scheins“ definiert. Nach langjähriger Rechtsprechung besitzt eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung einen hohen Beweiswert dafür, dass der Arbeitnehmer tatsächlich arbeitsunfähig erkrankt war. Arbeitnehmer, denen eine solche Bescheinigung ausgestellt wird, müssen sich im Rahmen der sechswöchigen Entgeltfortzahlungszeit also normalerweise keine Gedanken um ihre Entgeltfortzahlung machen. Unumstößlich ist die Beweiskraft einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung aber nicht; es kann Gründe geben, sie anzuzweifeln. Das kann ein auffälliges „Timing“ sein wie eine Krankschreibung unmittelbar nach einer Kündigung oder einem abgelehnten Urlaubsantrag. Oder der Arbeitnehmer verhält sich in einer Weise, die eine Arbeitsunfähigkeit zweifelhaft macht, wird zum Beispiel während seiner Krankschreibung Sieger des Bezirksmarathons. Und schließlich, wenn auch selten, gibt es Gründe, an der Seriösität des ausstellenden Arztes oder der Ärztin zu zweifeln. Hat der Arbeitgeber ernste Zweifel an der Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers, kann er die Entgeltfortzahlung einstellen. Damit einher geht das Risiko, aufgrund eines Gerichtsurteils die Entgeltfortzahlung sowie die Gerichts- und Anwaltskosten nachzahlen zu müssen, es sei denn, der Arbeitgeber kann den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttern und der Arbeitnehmer kann auch nicht anderweitig nachweisen, krank gewesen zu sein.

Der Fall: Arbeitnehmerin wird telefonisch krankgeschrieben

Nachdem es im Betrieb Unstimmigkeiten gegeben hatte, legte die Arbeitnehmerin eine am 12.12.2022 aufgrund eines Telefongesprächs ausgestellte ärztliche Bescheinigung über eine Arbeitsunfähigkeit von zwei Tagen vor, anschließend eine ebenfalls aufgrund eines Telefonates erstellte Folgebescheinigung für weitere drei Tage und schließlich eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung für knapp drei Wochen. Der Arbeitgeber hatte Zweifel an der Erkrankung und behielt das Gehalt für diese Zeiten ein. Die Arbeitnehmerin behauptete, sie habe an einer langwierigen Magen-Darm-Infektion gelitten und klagte auf Zahlung der Entgeltfortzahlung.

Das Urteil: Bescheinigung entgegen Arbeitsunfähigkeit-Richtlinie erschüttert Beweiswert

Das Landesarbeitsgericht Niedersachsen gab dem Arbeitgeber Recht und wies die Klage auf Zahlung ab (Urteil vom 18.04.2024, Az. 6 Sa 416/23). Das Gericht stellte klar, dass der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erschüttert werden kann, wenn diese nicht den gesetzlichen Anforderungen entspricht. Denn grundsätzlich trage der Arbeitnehmer die Darlegungs- und Beweislast für seine Erkrankung. Dieser Beweis werde in der Regel durch die Vorlage einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung geführt und sei auch als erbracht anzusehen, wenn diese ordnungsgemäß ausgestellt ist (und keine anderen Tatsachen die Krankheit zweifelhaft erscheinen lassen). Verstoße der ausstellende Arzt allerdings gegen Vorgaben der Arbeitsunfähigkeit-Richtlinie (AU-RL), könne der Beweiswert erschüttert sein. Es handele sich bei der AU-RL zwar nicht um von Gesetzes wegen zwingende Vorgaben, sie enthielten aber eine Zusammenfassung allgemeiner medizinischer Erfahrungs- und Grundregeln zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit. Nach den zu dem Zeitpunkt der Krankschreibung im Jahr 2022 geltenden AU-RL war eine Krankschreibung ohne persönliche Untersuchung nicht mehr bzw. noch nicht möglich. Das Gericht sah den Beweiswert der Bescheinigung daher als erschüttert an, weshalb hinsichtlich der Darlegungs- und Beweislast wieder derselbe Zustand eintrat wie vor Vorlage der Bescheinigung bzw. wie ohne ärztliche Bescheinigung. Es war also Sache der Arbeitnehmerin, konkrete Tatsachen darzulegen, die den Schluss auf eine bestehende Erkrankung zulassen. Diese hätte zumindest laienhaft bezogen auf den gesamten Entgeltfortzahlungszeitraum schildern müssen, welche konkreten gesundheitlichen Beeinträchtigungen mit welchen Auswirkungen auf seine Arbeitsfähigkeit bestanden haben. Die pauschale Behauptung, während der gesamten Zeit an einer Magen- und Darminfektion gelitten zu haben hat das Gericht hierbei als nicht ausreichend angesehen.

Kernaussagen des Urteils

Arbeitnehmer haben Anspruch auf Entgeltfortzahlung, wenn die Arbeitsunfähigkeit ordnungsgemäß nachgewiesen ist. Widerspricht die Ausstellung der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung den untersuchungsbezogenen Vorgaben der Arbeitsunfähigkeits-Richtlinie (AU-RL), ist ihr Beweiswert erschüttert. In diesem Fall muss der Arbeitnehmer konkrete Tatsachen darlegen, die eine fortwährende Arbeitsunfähigkeit glaubhaft machen. Dazu gehören Angaben zu Symptomen, Behandlungsmethoden, Verhaltensempfehlungen oder Medikamenten.

Fazit

Es gibt ein paar wenige Gründe, die geeignet sind, den Beweiswert einer ärztlichen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern. Inzwischen können Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen bei leichten Symptomen auch telefonisch für bis zu fünf Tagen ausgestellt werden (§ 4 Abs. 5 AU-RL), ansonsten ist nach wie vor eine persönliche, ggf. per Video vorgenommene, Untersuchung gefordert (§ 4 Abs. 5 der AU-RL). Die voraussichtliche Dauer der Arbeitsunfähigkeit soll im Regelfall nicht für einen mehr als zwei Wochen im Voraus liegenden Zeitraum bescheinigt werden (§ 5 Abs. 4 der AU-RL). Sind diese Vorgaben ärztlicherseits nicht eingehalten, kann der Arbeitgeber Zweifel an dem Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vortragen. Kommen noch weitere Umstände hinzu, die diesen Zweifel stützen oder trägt der Arbeitnehmer nicht in zumutbarem Maße detailliert zu seinem Krankheitsverlauf vor, kann der Arbeitnehmer seinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung verlieren. 

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