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Richterhammer und Justitia im Hintergrund
18. Mai 2021 / by Kanzlei Kerner

Förderpflichten bei Bewerbern mit Schwerbehinderung und Folgen der Nichteinhaltung

Bundesarbeitsgericht, Urteil vom 26.11.2020 – 8 AZR 59/20

Zum Jahresende 2019 lebten in Deutschland rund 7,9 Millionen Menschen mit Schwerbehinderung, was in etwa 9,5% der Bevölkerung entspricht (Statistisches Bundesamt, Pressemitteilung Nr. 230 vom 24. Juni 2020). Viele dieser Menschen gehen einer Erwerbstätigkeit nach; viele finden hingegen keinen Arbeitsplatz. Die Erwerbsquote schwerbehinderter Menschen hat sich in den letzten Jahren zwar erhöht, bleibt aber weiterhin deutlich hinter der Erwerbsquote von Menschen ohne eine Schwerbehinderung zurück.

Doch woran liegt das? Häufig dürfte es das Vorurteil sein, dass Arbeit und (Schwer-) Behinderung nicht zusammenpassen: Können Menschen mit Schwerbehinderung denn vernünftig arbeiten? Die eindeutige Antwort: Ja! Eine Schwerbehinderung bedeutet nicht, weniger leistungsfähig zu sein. Aber die Vorurteile sind da…

Ausgangssituation bei Bewerbern mit einer Schwerbehinderung

Aufgrund der häufig vorkommenden Vorurteile im Zusammenhang mit Schwerbehinderungen sieht das Sozialrecht eine besondere Berücksichtigung von Bewerbern mit Schwerbehinderung vor. Daraus folgen besondere Pflichten für die Arbeitgeber (§§ 164, 165 SGB IX).

Die Pflichten beginnen bereits, wenn es freie Arbeitsplätze gibt. Arbeitgeber müssen prüfen, ob diese freien Stellen geeignet sind, um mit schwerbehinderten Menschen besetzt werden zu können. Zu diesem Zweck sollen Arbeitgeber bereits frühzeitig Kontakt mit der Agentur für Arbeit aufnehmen.

Im nächsten Schritt ist den Vermittlungsvorschlägen der Agentur für Arbeit sowie den vorliegenden Bewerbungen von Menschen mit einer Schwerbehinderung eine besondere Beachtung zu schenken. Zunächst ist die Schwerbehindertenvertretung und auch der Betriebs-/Personalrat über den Eingang der Bewerbung bzw. den Vermittlungsvorschlag zu unterrichten und im weiteren Verfahren zu beteiligen.

Wie weitreichend die Beteiligungspflichten sind, hängt davon ab, ob der Arbeitgeber seiner Beschäftigungspflicht schwerbehinderter Menschen bereits nachkommt (§ 154 SGB IX). Maßgeblich ist insoweit die Größe des Unternehmens und die Anzahl der Beschäftigten mit einer Schwerbehinderung. Nur wenn der Arbeitgeber die verlangte Quote nicht einhält und zudem eine der zu beteiligenden Vertretungen mit der Entscheidung des Arbeitgebers nicht einverstanden ist, hat hier eine Erörterung der Gründe zu erfolgen. Dabei ist auch der betroffene Schwerbehinderte anzuhören. Über die anschließend getroffene Entscheidung des Arbeitgebers sind sodann alle Beteiligten unverzüglich zu unterrichten.

In Bezug auf die Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung hat diese zu unterbleiben, wenn der schwerbehinderte Bewerber dies ausdrücklich ablehnt.

Für öffentliche Arbeitgeber kommt die Besonderheit hinzu, dass schwerbehinderte Bewerber zu einem Vorstellungsgespräch einzuladen sind. Hiervon darf nur abgesehen werden, wenn der Bewerber für die Stelle offensichtlich nicht fachlich geeignet ist (§ 165 SGB IX). An dieses Kriterium werden hohe Anforderungen gestellt, sodass die Bewerber regelmäßig einzuladen sind.

Liegt ein Verstoß gegen die Förderpflichten des Arbeitgebers vor, kann das zu Entschädigungsansprüchen des Bewerbers nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG) führen. Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 26.11.2020 (Az. 8 AZR 59/20) soll zum Anlass genommen, auf die Folgen einer Verletzung von Förderpflichten einzugehen.

Der Sachverhalt

Die Klägerin bewarb sich bei der Beklagten, einem öffentlichen Arbeitgeber, auf eine Stellenausschreibung. In der Bewerbung fand Erwähnung, dass die Klägerin schwerbehindert ist. Der Grad der Behinderung (GdB) wurde nicht angegeben. Zudem äußerte die Klägerin, dass sie nur dann eingeladen werden wolle, wenn man sie in die engere Auswahl nimmt. In der Folge wurde die Klägerin zu einem Vorstellungsgespräch nicht eingeladen.

Die Klägerin begehrt mit ihrer Klage die Zahlung einer Entschädigung. Sie ist der Auffassung, dass die Nichteinladung zum Vorstellungsgespräch im Zusammenhang mit der Schwerbehinderung steht. Es liegt ein Verstoß gegen die Förderpflichten schwerbehinderter Bewerber vor.

Die Beklagte geht davon aus, dass vorliegend keine Förderpflichten einzuhalten waren, da die Klägerin den GdB nicht angab. Zudem soll die Klägerin auf eine Einladung verzichtet haben, da sie nur eingeladen werden wollte, wenn sie auch zum engeren Auswahlkreis gehört.

Entscheidung des Landesarbeitsgerichts Baden-Württemberg

Gegenstand der Entscheidung waren weniger die Förderpflichten sowie die Folgen einer Verletzung. Vorliegend ging es um die Frage, ob diese Förderpflichten zu beachten waren.

Das Landesarbeitsgericht Baden-Württemberg (Urt. 16.01.2019 – 14 Ca 2090/18) gab – wie auch schon erstinstanzlich das Arbeitsgericht Stuttgart – der Beklagten recht und vertrat die Auffassung, dass die Klägerin über ihre Schwerbehinderung nicht ordnungsgemäß informiert hat, da der GdB nicht angegeben wurde. In der Folge war die Beklagte auch nicht verpflichtet, die besonderen Förderpflichten einzuhalten.

Zudem ging das Landesarbeitsgericht davon aus, dass die Klägerin wirksam auf eine Einladung zum Vorstellungsgespräch verzichtete.

Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts vom 26.11.2020

Das Bundesarbeitsgericht bewertete den Fall nun ganz anders.

Die Klägerin hat sehr wohl ausreichend über Ihre Schwerbehinderung informiert hat. Das ist bereits dann der Fall, wenn die Mitteilung der Schwerbehinderung im Bewerbungsschreiben, im Lebenslauf an gut erkennbarer Stelle oder durch die Vorlage des Schwerbehindertenausweises erfolgt. Die Angabe des GdB war indes nicht erforderlich. Das folgt aus dem Gedanken, dass schon aus der Begrifflichkeit „Schwerbehinderung“ folgt, dass mindestens ein GdB von 50 vorliegt und bereits dadurch die Förderpflichten ausgelöst werden.

Auch konnte die Klägerin auf die Einladung nicht verzichten. Begründet wird das damit, dass die Förderpflichten den Arbeitgeber verpflichten. Jedoch folgt aus der Vorschrift kein individueller Anspruch bzw. ein individuelles Recht, auf das man verzichten könnte.

Zudem ist die Klägerin nicht offensichtlich ungeeignet.

Folge dieser Sichtweise ist, dass die Klägerin zum Vorstellungsgespräch hätte eingeladen werden müssen. Da eine Einladung unterblieb, wurde gegen die Förderpflichten von Bewerbern mit Schwerbehinderung verstoßen.

Verstoß gegen Förderpflichten und AGG

Nun muss man wissen, dass ein Verstoß gegen die Förderpflichten nach ständiger Rechtsprechung des BAG eine Vermutung dahingehend schafft, dass der Bewerber aufgrund seiner Schwerbehinderung benachteiligt wurde. Die Klägerin konnte daher eine Zahlung auf Entschädigung wegen einer Benachteiligung nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz geltend machen.

Der Normalfall ist, dass derjenige, der etwas für sich beansprucht, die notwendigen Tatsachen darlegen und beweisen muss. Die Vermutung bewirkt nun aber eine Umkehr der Darlegungs- und Beweislast. Es war daher die Pflicht des Arbeitgebers darzulegen und nachzuweisen, dass eine Benachteiligung aufgrund der Schwerbehinderung nicht vorliegt. Er musste Tatsachen vortragen, aus denen sich ergibt, dass ausschließlich andere Gründe als die Schwerbehinderung oder ein anderer der in § 1 AGG (weitere Informationen zum Thema AGG finden Sie hier) genannten Gründe als Grundlage für die Entscheidung dienten.

Exkurs (1): Bundesarbeitsgericht, Urt. vom 17.12.2020 – 8 AZR 171/20

In einer weiteren Entscheidung aus Dezember 2020 befasste sich das BAG mit der Frage, bis wann die Mitteilung über die Schwerbehinderung erfolgen kann, um die Förderpflichten auszulösen. Regelmäßig ist hierüber bereits im Bewerbungsschreiben zu informieren. Gibt es eine Bewerbungsfrist, kann die Mitteilung spätestens bis zum Ablauf der Frist nachgeholt werden. Erlangt der Arbeitgeber erst nach Fristablauf Kenntnis von der Schwerbehinderteneigenschaft, wird regelmäßig nicht die Vermutung begründet, dass eine Benachteiligung aufgrund der Schwerbehinderung vorliegt.

Exkurs (2): Bundesarbeitsgericht, Urt. vom 29.04.2021 – 8 AZR 279/20

Mit Urteil vom 29.04.2021 entschied das BAG in einer weiteren Angelegenheit, in der ein schwerbehinderter Bewerber von einem öffentlichen Arbeitgeber nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen wurde. Hintergrund war hier, dass die Stellenausschreibung einen Hochschulabschluss mit der Note „gut“ vorsah. Der Bewerber schloss sein Studium mit der Note „befriedigend“ ab.

Weiter oben wurde bereits dargestellt, dass ein öffentlicher Arbeitgeber von einer Einladung nur dann absehen kann, wenn dem Bewerber offensichtlich die fachliche Eignung fehlt. In seiner Entscheidung führt das BAG aus, dass die fehlende Eignung dann angenommen werden kann, wenn ein Bewerber ein zwingendes Auswahlkriterium nicht erfüllt. Ein solches Kriterium kann auch das Erfordernis eines Mindestnote sein. Voraussetzung ist dann, dass dieses Kriterium konsequent berücksichtigt wird und keine Bewerber eingeladen werden, die das Kriterium nicht erfüllen.

Da die Vorinstanzen hierzu keine Feststellungen getroffen hatten, war die Sache an das zuständige Landesarbeitsgericht zurückzuverweisen.

Empfehlung für Arbeitgeber

Aus Arbeitgebersicht empfiehlt es sich, die Einzelheiten des Bewerbungsverfahrens stets zu dokumentieren. Die Dokumentation bietet sich an dieser Stelle grundsätzlich und unabhängig davon an, ob der Bewerber schwerbehindert ist. Auch wenn der Bewerber nicht schwerbehindert ist, kann es nämlich gleichwohl zu Fällen kommen, in denen sich der Bewerber aufgrund eines anderen in § 1 AGG genannten Grundes benachteiligt fühlt. Solche anderen Gründe können beispielsweise Benachteiligungen aufgrund der Rasse/ethnischen Herkunft, des Geschlechtes, einer Religion oder Weltanschauung, des Alters oder der sexuellen Identität sein.

Fazit

Die 3 Urteile des BAG binnen weniger Monate zeigen, welche Bedeutung den Themen Schwerbehinderung und Bewerbungsverfahren beizumessen ist.

Festzuhalten ist zunächst, dass Gegenstand der jeweiligen Entscheidung die Frage ist, ob vorliegend die Förderpflichten anzuwenden sind. Die weiteren Fragen zu den Folgen eines solchen Verstoßes sind bereits länger geklärt und werden in der Entscheidung vom 26.11.2020 (Az. 8 AZR 59/20) noch einmal ausführlich dargelegt.

Um die Förderpflichten auszulösen, genügt es, wenn der Bewerber rechtzeitig auf seine Schwerbehinderung hinweist und – sofern vorhanden – zwingende Auswahlkriterien erfüllt. Eine konkrete Angabe des GdB ist nicht erforderlich. Soweit es öffentliche Arbeitgeber betrifft, kann der Bewerber mangels eines individuellen Anspruchs auf eine Einladung nicht verzichten. Das wird insoweit auch für die weiteren Förderpflichten nach § 164 Abs. 1 SGB IX gelten.

Werden die Förderpflichten nicht eingehalten, können sich Arbeitgeber schnell dem Vorwurf ausgesetzt sehen, den Bewerber aufgrund seiner Schwerbehinderung benachteiligt zu haben. Das AGG vermutet insoweit eine Benachteiligung wegen der (Schwer-) Behinderung.

Will sich der Arbeitgeber hiergegen wehren, muss er darlegen und beweisen, dass eine Benachteiligung aufgrund der Schwerbehinderung nicht erfolgte. Zu diesem Zweck bietet es sich an, konkret zu dokumentieren, aus welchen Gründen der Bewerber nicht berücksichtigt wurde.

Haben Sie Fragen zu dem Thema Gleichbehandlung bzw. Diskriminierung? Wir helfen Ihnen gerne weiter.

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