Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 11.08.2016
Zum Maßstab „offensichtlich ungeeignet“ bei der Bewerbung Schwerbehinderter
“Sehr geehrter Herr Müller, nach Durchsicht Ihrer Bewerbungsunterlagen müssen wir Ihnen mitteilen, dass Sie für die ausgeschriebene Stelle offensichtlich ungeeignet sind.” Autsch. Wer schreibt denn sowas in eine Bewerbungsablehnung – darf man das eigentlich? Ja, wenn es auch stimmt. Denn ziemlich sicher ist diesem Satz Folgendes vorausgegangen: Herr Müller ist schwerbehindert im Sinne des SGB IX. Er hat sich bei einem öffentlichen Arbeitgeber, vielleicht einer Behörde, beworben und dort wegen des Satzes “Schwerbehinderte Bewerber werden bevorzugt.” auf seine Schwerbehinderung hingewiesen. Dann folgte: Nichts. Und dann eine Ablehnung. Herr Müller fragte also nach, warum er abgelehnt wurde und erhielt obigen Brief zur Antwort.
Woher wissen wir Arbeitsrechtler so etwas? Weil wir § 82 Sätze 2, 3 SGB IX kennen. Dort steht:
„Haben schwerbehinderte Menschen sich um einen solchen Arbeitsplatz beworben oder sind sie von der Bundesagentur für Arbeit oder einem von dieser beauftragten Integrationsfachdienst vorgeschlagen worden, werden sie zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen. Eine Einladung ist entbehrlich, wenn die fachliche Eignung offensichtlich fehlt. Einer Integrationsvereinbarung nach § 83 bedarf es nicht, wenn für die Dienststellen dem § 83 entsprechende Regelungen bereits bestehen und durchgeführt werden.“
Das heißt: Öffentliche Arbeitgeber müssen schwerbehinderte Bewerber zum Vorstellungsgespräch einladen. Warum? Der schwerbehinderte Bewerber soll im persönlichen Gespräch noch einmal die Chance haben, seine Stärken herauszustellen und das Vorurteil der Leistungsschwäche widerlegen können. Das Gesetz kennt einen einzigen Puffer gegen Missbrauch dieser Pflicht: Die Nichteinladung zum Gespräch wegen offensichtlicher Ungeeignetheit.
Was bedeutet “offensichtlich ungeeignet”?
Dieser Maßstab ist wörtlich zu nehmen: Der Bewerber muss auf den ersten Blick für die Stelle nicht in Frage kommen. Das bestimmt sich nach einem Abgleich zwischen den Bewerbungsunterlagen und den ausgeschriebenen Anforderungen. Bestehen danach “nur” Zweifel, ob der schwerbehinderte Bewerber geeignet ist, muss er eingeladen werden. Gibt es Bewerber, die besser geeignet sind, muss er dennoch eingeladen werden.
Was ist, wenn der Bewerber trotz Eignung nicht eingeladen wird?
Eine Arbeitsstelle kann man sich nicht erklagen. Ein auf diese Weise erzwunges Arbeitsverhältnis wäre auch von Anfang an ziemlich belastet. Dennoch lässt schon die Nichteinladung zum Vorstellungsgespräch eine verbote Diskriminierung schwerbehinderter Bewerber vermuten. Kann der öffentliche Arbeitgeber nicht darlegen, dass die Nichteinladung auf einer offensichtlichen Ungeeignetheit beruhte oder dass Gründe vorlagen, die nichts mit der Schwerbehinderung zu tun haben, hat er gegen das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz verstoßen. Als Kompensation für den Bewerber und als Warnschuss für den Arbeitgeber sieht das Gesetz eine Geldzahlung vor. Wäre der Bewerber auch bei benachteiligungsfreier Auswahl nicht eingestellt worden, ist diese Entschädigung der Höhe nach auf drei Bruttomonatsgehälter begrenzt (§ 15 Abs. 2 Satz 2 AGG).
Und wenn die Behörde die Schwerbehinderung bloß übersehen hat?
Das ist für das Entstehen des Anspruchs egal, kann allerdings Auswirkungen auf die Höhe haben. Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts ist es grundsätzlich Sache des Arbeitgebers, wie er sich im Bewerbungsverfahren organisiert. Er trägt Verantwortung dafür, dass alle Bewerbungsunterlagen gesichtet und entsprechend behandelt werden. Mit einem Übersehen des Hinweises auf die Schwerbehinderung kann er sich nicht entlasten. Ein solches Argument würde auch das Prozessrisiko ungerechtfertigt auf den Bewerber übertragen.
Aber: Wird über die Höhe des Anspruchs entschieden, wird auch über das Maß der Schuld entschieden. Und dabei kann es auch eine Rolle spielen, wenn der Hinweis auf die Schwerbehinderung nicht deutlich hervorgehoben war oder sich nur aus den Anlagen ergab. Faktisch kann also ein Hinweis auf die Schwerbehinderung nur im “Kleingedruckten” der Bewerbung die Anspruchshöhe reduzieren.
Was war passiert? Heizungsbauer wird nicht eingeladen.
Im Jahr 2013 bewarb sich ein gelernter Zentralheizungs- und Lüftungsbauer mit einem GdB von 50 bei der Stadt Frankfurt. Dort war eine Stelle zu besetzen, für die als Qualifikation ein Dipl.-Ing. (FH), eine staatliche Prüfung zum Techniker oder zum Meister Heizungs-/Sanitär-/Elektrotechnik (jeweils m/w) oder eine vergleichbare Qualifikation erwartet wurde. Außerdem wurde langjährige Berufs- und Führungserfahrung erwartet.
Der Bewerber konnte über seine Ausbildung hinaus viele Zusatzausbildungen und -qualifikationen aufweisen und hatte acht Jahre als technischer Leiter und stellvertretender Betriebsleiter gearbeitet.
Er wurde nicht zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen und klagte auf Entschädigung. In erster Instanz wurden ihm drei Monatsgehälter als Entschädigung zugesprochen. Das Arbeitsgericht Frankfurt entschied, dass der Bewerber zumindest über eine “vergleichbare Qualifikation” verfügte und auch die erwünschte langjährige Führungserfahrung jedenfalls nicht ausgeschlossen war. Gegen das Urteil legte die beklagte Stadt Berufung ein.
Das Urteil: Ja, aber…
In zweiter Instanz vor dem Landesarbeitsgericht war die Klage immer noch dem Grunde nach erfolgreich, die Höhe der Entschädigung wurde aber auf ein Monatsgehalt reduziert (Urteil LAG Hessen vom 24.04.2014, 21 Ca 8338/13). Zur Begründung führte das Hessische Landesarbeitsgericht aus, dass bei der Beurteilung der Höhe der Entschädigung eine Abwägung stattzufinden habe. Der Bewerber hatte in seiner Bewerbung nicht ausdrücklich auf seine Schwerbehinderung hingewiesen, sondern diese ergab sich lediglich aus dem Verzeichnis der Anlagen und dem beigefügten Schwerbehindertenausweis. Außerdem übererfüllte die Stadt bereits die vorgesehene Quote an Schwerbehinderten. Zwar hätte der Kläger nichtsdestotrotz zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen müssen. Streut ein Bewerber seine Schwerbehinderteneigenschaft allerdings nur beiläufig in die Bewerbung ein und erfüllt der öffentliche Arbeitgeber im Übrigen seine Pflichten ordnungsgemäß, ist nach Ansicht des Landesarbeitsgerichts die Entschädigungszahlung zu reduzieren.
Das Bundesarbeitsgericht hat sich diesem Urteil angeschlossen (Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 11.08.2016, Az. 8 AZR 375/15). Bisher liegt das Urteil noch nicht im Volltext vor, die Pressemitteilung (externer Link) weist aber darauf hin, dass das Bundesarbeitsgericht der Begründung des Landesarbeitsgerichts vollständig folgt.
Fazit
Klar ist: Wird ein schwerbehinderter Bewerber bei einem öffentlichen Arbeitgeber nicht zum Vorstellungsgespräch eingeladen, obwohl er alle als zwingend ausgeschriebenen Voraussetzungen erfüllt, ist es für den öffentlichen Arbeitgeber so gut wie unmöglich, der AGG-Haftung zu entgehen. Das bleibt auch so. Das Landesarbeitsgericht Hessen und sich anschließend das Bundesarbeitsgericht haben aber mit dem vorliegenden Urteil gezeigt, dass der Maßstab „3 Monatsgehälter“ nicht immer das Maß der Dinge ist, sondern dass bei der Zumessung der Höhe ganz verschiedene Kriterien eine Rolle spielen können.
Arbeitnehmer sollten beachten, dass für die Geltendmachung ihrer Ansprüche Fristen einzuhalten sind und entsprechend zeitnah rechtlichen Rat einholen.
Noch Fragen?
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