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Mann hält Wecker, der auf einem Buch steht
3. Februar 2023 / by Kanzlei Kerner

Recht auf Unerreichbarkeit – dienstliche Nachrichten müssen in der Freizeit nicht gelesen werden

Urteil des LAG Schleswig-Holstein vom 27.09.2022 (1 Sa 39 öD/22)

Erst machte die Digitalisierung das mobile Arbeiten möglich, dann beschleunigte die Corona-Pandemie diese Entwicklung sprunghaft. Im Ergebnis ist Arbeiten an verschiedenen Orten heute normaler denn je. Das schließt auch mit ein, dass der Chef die private Handynummer kennt oder E-Mails am späten Abend abgerufen werden können. Manch einem fällt es schwer, in dieser Vermischung von Arbeits- und Freizeit die eigenen Grenzen zu wahren. Und in manch einem Fall drängelt sich der Arbeitgeber in eigentlich arbeitsfreie Zeiträume hinein, was auf Dauer an den Ressourcen nagt. In Frankreich, Belgien, Italien und Spanien gibt es daher bereits ein gesetzliches Recht auf Unerreichbarkeit im Arbeitsverhältnis. Ignoriert ein dortiger Arbeitnehmer während seiner Freizeit dienstliche Nachrichten, darf ihm daraus also kein Nachteil erwachsen. Brauchen wir so ein Gesetz also auch? Und was gilt eigentlich für die Sonderformen der Arbeit wie Rufbereitschaft? Ein neueres Urteil des Landesarbeitsgerichts Schleswig-Holstein hilft hier weiter.

Was bedeutet eigentlich Rufbereitschaft? Und was ist der Unterschied zu Bereitschaftsdienst?

Arbeitsbereitschaft ist keine reguläre Arbeitstätigkeit, aber auch keine Freizeit. Besonders verbreitet sind Bereitschaftsdienste in Einrichtungen, in denen es zu Notfällen kommen kann, also Krankenhäusern, Feuerwehren, aber auch im IT-Bereich oder im Verkehrssektor. Bereitschaftsdienst meint also die ständige Abrufbarkeit eines Arbeitnehmers. Um unmittelbar zur Arbeit übergehen zu müssen, muss der Arbeitnehmer sich hierzu im Betrieb befinden. Rufbereitschaft bezeichnet ebenfalls einen Zustand ständiger Erreichbarkeit, hierbei muss der Arbeitnehmer lediglich alsbald zur Arbeit übergehen können, sich also nicht im Betrieb aufhalten, diesen jedoch zeitgerecht erreichen können. In beiden Fällen kann der Arbeitnehmer, solange kein Arbeitsabruf erfolgt und er nicht seiner Arbeitsbereitschaft zuwiderhandelt, die Zeit nach seinem Belieben gestalten.

Der Fall: Dienstliche SMS während Freizeit ignoriert

Der spätere Kläger ist als Notfallsanitäter beschäftigt. In seinem Arbeitsvertrag ist geregelt, dass Springerdienste und Rufbereitschaftszeiten notwendig werden können. In so genannten unkonkret zugeteilten Springerdiensten können nach der Zuteilung weitere Konkretisierungen vorgenommen werden. Für die Ankündigung wurden Zeitkorridore festgelegt.

Für den späteren Kläger war für den nächsten Arbeitstag ein solcher unkonkreter Springerdienst eingetragen. Am Vortag, an dem er auch keine Rufbereitschaft hatte, teilte der Arbeitgeber ihn in die Tagschicht mit Dienstbeginn um 6:00 Uhr ein und versuchte am frühen Nachmittag, ihn telefonisch oder per SMS zu erreichen. Als er am Folgetag um 7:30 Uhr telefonisch seine Bereitschaft zur Arbeitsleistung anzeigte, wurde er nicht weiter eingesetzt. Der Arbeitgeber erteilte dem Kläger eine Ermahnung und bewertete den Tag als unentschuldigtes Fehlen.

Der Arbeitnehmer wehrte sich hiergegen mit dem Argument, die Konkretisierung des Dienstes sei nach Ablauf der arbeitsvertraglich festgelegten Frist erfolgt, was unstreitig blieb. Er sei nicht verpflichtet, sich während seiner Freizeit darüber zu informieren, wann er zu arbeiten habe. Sie umgehe mit ihrer Vorgehensweise die Anordnung von Rufbereitschaft, um Kosten zu sparen.

Der Arbeitgeber wandte ein, der Arbeitnehmer sei als vertragliche Nebenpflicht des Arbeitsvertrags verpflichtet, sich über seine Dienstzeiten zu informieren. Indem er weder telefonisch erreichbar war noch auf SMS reagiert habe, habe er hinsichtlich der versäumten Arbeitszeit unentschuldigt gefehlt.

 Das Urteil: Arbeitnehmer musste Nachricht nicht lesen

Das Gericht gab dem Kläger recht und verurteilte den Arbeitgeber, ihm die Arbeitszeit auf seinem Stundenkonto (wieder) gutzuschreiben sowie die Ermahnung aus der Personalakte zu entfernen.

Zur Begründung führte das Gericht aus, dass für den Arbeitnehmer das telefonische Angebot zur Arbeitsleistung am Tag seines „unkonkreten Springerdienstes“ ausreichend war. Mit der Erwartung, die dienstliche SMS zu lesen, hätte der Arbeitgeber von dem Arbeitnehmer eine Arbeitsleistung erwartet, da diese Tätigkeit im ausschließlichen Interesse des Arbeitgebers lag. In seiner Freizeit stehe dem Kläger jedoch das Recht auf Unerreichbarkeit zu. Freizeit zeichne sich gerade dadurch aus, dass Arbeitnehmer in diesem Zeitraum dem Arbeitgeber nicht zur Verfügung stehen müssten. Dem stehe auch nicht entgegen, dass das Lesen der Nachricht nur eine minimale Dauer in Anspruch genommen hätte. Arbeit wird nicht deswegen zur Freizeit, weil sie nur in zeitlich geringfügigem Umfang anfällt, so das Gericht. Vielmehr verhalte sich der Arbeitgeber widersprüchlich, wenn er einerseits dem Arbeitnehmer Freizeit gewähre und andererseits von ihm verlange, Arbeitsleistungen in Form des Lesens dienstlicher Nachrichten zu erbringen. Ganz ähnlich hatte bereits das Landesarbeitsgericht Thüringen in seinem Urteil vom 16.05.2018, Az. 6 Sa 442/17 entschieden.

Fazit: Stärkung des Rechts auf Unerreichbarkeit

Mit deutlichen Worten hat das Landesarbeitsgericht Schleswig-Holstein der Rechtsauffassung des Arbeitgebers, der Arbeitnehmer habe in seiner Freizeit dienstliche SMS oder E-Mails zu lesen, eine Absage erteilt. Schon seit einiger Zeit stärkt die Rechtsprechung das Recht der Arbeitnehmer auf Unerreichbarkeit außerhalb der Arbeitszeit, dies auch zum Schutz vor allzu plötzlichen Änderungen des Dienstplans. Diese Haltung begründen die Gerichte mit der Gesunderhaltung der Arbeitnehmer und sie wird in der digitalisierten und entgrenzten Arbeitswelt noch an Bedeutung zunehmen. Man kann diese Rechtsprechung inzwischen verfestigt nennen, so dass eine gesetzliche Ausformung lediglich noch die schon bestehende Rechtslage klarstellen würde. Arbeitgeber, die eine Erreichbarkeit ihrer Arbeitnehmer sicherstellen möchten, müssen also mit Bereitschaftsdiensten arbeiten.

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