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28. April 2016 / by Katja Kläfker

Ach, Sie wollten davon leben können?

Urteil des Landesarbeitsgerichts Berlin-Brandenburg vom 20.04.2016

Sittenwidrig niedriger Lohn

Vertragstreue (schöner auf Latein: pacta sunt servanda) und der Grundsatz von Treu und Glauben (bona fides) sind die tragenden Grundsätze des Vertragsrechts. Zu deutsch: Wer einen Vertrag schließt, muss mit dem Ergebnis leben. Das Gesetz traut (und mutet) Ihnen zu, sich im Rechtsverkehr zu bewegen und Verträge auf eigenes Risiko zu schließen.

Die Vorstellung ist charmant, fast etwas kitschig: Gleichgeordnete Vertragspartner, die auf Augenhöhe verhandeln und Verträge schließen, die dann auch gelten. Allerdings stammt die Idee aus dem Jahr 1234 (kein Scherz) und hat kaum noch etwas mit unserer Lebenswirklichkeit zu tun. Heute bereitet in der Regel eine Vertragspartei, nämlich die strukturell überlegene, den zu schließenden Vertrag vor. Die Mitwirkung des strukturell unterlegenen Teils beschränkt sich auf das Unterzeichnen. Aus diesem Grund ist von dem „tragenden Grundsatz“, das geschlossene Verträge gelten, nicht mehr viel übrig, er ist überlagert von neueren Schutzvorschriften zugunsten der strukturell unterlegenen Verbraucher (Stichwort „AGB-Kontrolle“).

Diese Schutzvorschriften gelten auch für Arbeitsverträge und begrenzen den Umfang, in dem ein Arbeitgeber sein Risiko an den Arbeitnehmer weitergeben kann. Unangemessene Benachteiligungen sind unwirksam.

Einführung des Mindestlohns

Bis zur Einführung des Mindestlohns durch das Mindestlohngesetz (MiLoG) Anfang 2015 machte der Gesetzgeber in Sachen Vertragsfreiheit allerdings noch eine entscheidende Ausnahme von der Überprüfungsmöglichkeit der Arbeitsverträge durch die Gerichte. Über die Basis des Vertrags, das Verhältnis zwischen Arbeitsleistung und Geld, sollten die Vertragsparteien frei verfügen können. Es konnte also grundsätzlich frei vereinbart werden, wie viele Stunden für wie viel Geld gearbeitet werden musste.

Nach unten: Grenze der Sittenwidrigkeit

Aber wiederum keine Regel ohne Ausnahme: Schon vor dem Mindestlohngesetz galt und gilt für alle Verträge die Grenze der Sittenwidrigkeit. Wer einen anderen ausnutzt und sich dessen schwache Position vorsätzlich zu Nutze macht, steht nicht unter dem Schutz der Rechtsordnung. Für das Arbeitsverhältnis heißt das: Ist ein sittenwidrig niedriger Lohn vereinbart, ist diese Vereinbarung vollständig unwirksam.

Wurde doch gearbeitet, ist nicht etwa das „gerade noch nicht sittenwidrige Gehalt“ zu zahlen und auch nicht der Mindestlohn, es sei denn, Mindestlohn ist der übliche Lohn für diese Arbeit. Denn der Arbeitgeber muss statt des sittenwidrig niedrigen Lohns den üblichen Lohn zahlen, also dass, was einem Arbeitnehmer für eine vergleichbare Arbeit üblicherweise gezahlt wird.

Wie wird nun ermittelt, welcher Lohn sittenwidrig niedrig ist? Zunächst muss ein auffälliges Missverhältnis zwischen Leistung und Gegenleistung vorliegen. Unterschieden wird der Lohnwucher nach § 138 Abs. 2 BGB und das wucherähnliche Geschäft nach § 138 Abs. 1 BGB, das Ergebnis ist dasselbe.

Nach der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts liegt ein auffälliges Missverhältnis vor, wenn die Vergütung entweder nicht einmal zwei Drittel des in dem Wirtschaftszweig üblicherweise gezahlten Tarifentgelts oder des Lohnniveaus beträgt, der sich für die ausgeübte Tätigkeit in der Wirtschaftsregion gebildet hat.

Zusätzlich ist eine „verwerfliche Gesinnung“ erforderlich. Die liegt vor, wenn dem Arbeitgeber bewusst ist, dass der Lohn so niedrig ist, dass das „nicht mehr in Ordnung“ sein kann und er die Vereinbarung dennoch schließt.

Diese verwerfliche Gesinnung muss der Arbeitnehmer nachweisen können, was naturgemäß schwierig ist. Die Rechtsprechung hilft und nimmt eine Vermutung der verwerflichen Gesinnung an, wenn der objektive Wert der Arbeitsleistung, also die übliche Vergütung, mindestens doppelt so hoch ist wie der gezahlte Lohn.

Der Fall: Pizza ausfahren für 3,40 € in der Stunde

Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg hat sich aktuell mit einem Arbeitsverhältnis beschäftigt, in dem eine Pizzafahrerin einen Lohn von 3,40 € stündlich erhielt.

Der Arbeitgeber ist Inhaber einer Pizzeria im östlichen Brandenburg, die Arbeitnehmerin war zwischen 2011 und 2014 bei einer vereinbarten Arbeitszeit von ca. 35 bis 40 Stunden monatlich beschäftigt. Hierfür zahlte der Arbeitgeber durchschnittlich 3,40 € pro Arbeitsstunde.

Bei einer 40-Stunden-Woche ergäbe sich mit diesem Stundenlohn ein monatliches Gehalt von ca. 573,92 €.

Das Urteil: Ein „Hungerlohn“ ist sittenwidrig

Wenig überraschend hat das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg mit Urteil vom 20.04.2016 (Az. 15 Sa 2258/15) ebenso wie schon das Arbeitsgericht in erster Instanz der Klage stattgegeben.

Das klagende JobCenter, welches geleistete Sozialleistungen erstattet erhalten wollte, wies anhand der Statistiken des statistischen Landesamtes eine übliche Vergütung für die Tätigkeit der Arbeitnehmerin in Höhe von zunächst 6,77 € und später 9,74 € nach. Die Vergütung von durchschnittlich 3,40 € pro Stunde betrug damit zunächst 50 % und später 35 % des üblichen Lohns.

Das Landesarbeitsgericht bezeichnete die Vergütungsvereinbarung als „Hungerlohn“ und verurteilte den Arbeitgeber zur Zahlung der Differenz zwischen schon gezahltem Lohn und üblichem Lohn (Pressemitteilung des Arbeitsgerichts Berlin vom 22.04.2016; externer Link).

Fazit

Der sittenwidrig niedrige Lohn ist einer der wenigen Anwendungsfälle des § 138 BGB, der ansonsten eher ein Dasein als Programmsatz fristet.

Die Aussage des Gesetzgebers ist klar: Wer böswillig andere ausnutzt, kann sich auf pacta sunt servanda (Verträge sind einzuhalten) nicht berufen. Er wird aber auch nicht – jedenfalls nicht vom Vertragsrecht – sanktioniert, sondern es wird die Lage hergestellt, wie sie bei einer nicht sittenwidrigen Vereinbarung wohl bestanden hätte.

 

Das Problem des Arbeitnehmers, der nicht in einer üblicherweise tarifgebundenen Branche arbeitet, wird allerdings häufig darin bestehen, die übliche Vergütung darzulegen. Denn hierfür sind die Anforderungen beinahe schon überzogen hoch. Der Arbeitnehmer muss Anhaltspunkte dafür darlegen, was ein vergleichbarer Arbeitnehmer in der betreffenden Region in einem Betrieb vergleichbarer Größe mit vergleichbarem Alter etc. üblicherweise an Lohn erhält. Im besten Fall kann er hierfür auf Statistiken zurückgreifen, anderenfalls bleibt alleine ein Privatgutachten.

Hätte die Arbeitnehmerin nach dem 01.01.2015 gearbeitet, wäre der Fall etwas anders entschieden worden. Dann wäre mindestens der Mindestlohn in Höhe von 8,50 € in der Stunde zugesprochen worden.

Noch Fragen?

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