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Menschenmasse von oben fotografiert
27. Oktober 2016 / by kanzleiKerner

Minenfeld Massenentlassung

Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 09.06.2016

Zu den Auswirkungen einer unvollständigen Betriebsratsbeteiligung

Bei Entlassungswellen ist das mit der Schuld so eine Sache. Arbeitnehmer fühlen sich von „denen da oben“ unfair behandelt, während die Personalverantwortlichen sich in wirtschaftlichen Zwängen sehen. Und schonend kündigen geht nun mal nicht. Nicht selten ist es dann auch bereits der Insolvenzverwalter, der die Entlassungen tatsächlich vornimmt. Wie der Name sagt, handelt es sich um die Entlassung von mehreren, einer „Masse“ von Arbeitnehmern. Genauer gesagt spricht man von einer Massenentlassung, wenn gleichzeitig oder innerhalb von 30 Tagen eine in § 17 Absatz 1 des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) definierte Anzahl von Arbeitnehmern entlassen wird. In Betrieben mit 20 bis 60 Arbeitnehmern ab dem 6. Arbeitnehmer, in Betrieben unter 500 Arbeitnehmern ab dem 26. Arbeitnehmer oder ab 10 {3826537d91c38f8d42de122e87e9e526ad05f6837335344f5142eee66b93d0e3} der Belegschaft und in Betrieben ab 500 Arbeitnehmern bei mindestens 30 Arbeitnehmern.

Bei unternehmensweiten Entlassungswellen kann man dabei von der Faustformel ausgehen: Ein Standort entspricht einem Betrieb, hier müssen also diese Schwellenwerte erreicht sein. Wer als Arbeitnehmer zu zählen ist, haben wir hier besprochen.

Welche Auswirkungen hat das Etikett Massenentlassung, das nun an jeder Kündigung klebt? Trotz des unschönen Wortlautes sind es für die Arbeitnehmer positive Wirkungen. Dem Arbeitgeber werden zusätzliche Pflichten auferlegt, die die Interessen der Betroffenen schützen sollen. Bei Fehlern kann die gesamte Kündigungswelle unwirksam sein. Wo also schon eine „normale“ Kündigung häufig fehlerhaft ist, ist das bei der Kündigung im Rahmen einer Massenentlassung erst recht der Fall. Der Arbeitgeber ist also gezwungen, solche Kündigungen sorgfältig vorzubereiten und für den gekündigten Arbeitnehmer bieten sich zusätzliche Chancen im Kündigungsschutzverfahren.

Erste Fehlerquelle: Beteiligung des Betriebsrats

Durch die Einordnung als Massenentlassung ist der Arbeitgeber verpflichtet, die geplanten Entlassungen mit dem Betriebsrat zu beraten. Das ergibt sich aus § 17 Absatz 2 KschG und ist ein  „Mehr“ zur ohnehin vor jeder Kündigung bestehenden Pflicht, den Betriebsrat anzuhören. Der Betriebsrat soll in die Lage versetzt werden, konstruktive Vorschläge zu machen, nach denen die Kündigungen vermieden oder die Folgen für die Betroffenen abgemildert werden können. Deshalb hat der Arbeitgeber die Unterrichtung rechtzeitig und zweckdienlich insbesondere über die folgenden Punkte zu unterrichten:

  1. die Gründe für die geplanten Entlassungen,
  2. die Zahl und die Berufsgruppen der zu entlassenden Arbeitnehmer,
  3. die Zahl und die Berufsgruppen der in der Regel beschäftigten Arbeitnehmer,
  4. den Zeitraum, in dem die Entlassungen vorgenommen werden sollen,
  5. die vorgesehenen Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer,
  6. die für die Berechnung etwaiger Abfindungen vorgesehenen Kriterien.

Das bedeutet unter anderem, dass die Gründe für die Entscheidung nachvollziehbar gemacht werden müssen – pauschale Angaben wie „Kündigung aus betriebsbedingten Gründen“ genügt nicht!

Die Beratungspflicht ist (erst) dann erfüllt, wenn eine ausreichende und abschließende Stellungnahme des Betriebsrats vorliegt oder wenn sich Arbeitgeber und Betriebsrat auf einen Interessenausgleich verständigen. Fehlt die Stellungnahme des Betriebsrats, kann das zur Unwirksamkeit sämtlicher Kündigungen führen.

Außerdem muss der Arbeitgeber den Betriebsrat nach § 111 Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) beteiligen. Diese Pflicht wird dadurch ausgelöst, dass die Rechtsprechung unter einer Massenentlassung die dort beschriebene „Betriebsänderung, die wesentliche Nachteile für die Belegschaft oder erhebliche Teile der Belegschaft zur Folge haben kann” versteht. Auch, aber nicht nur, im Fall einer Betriebsschließung.

Auch diese Vorschrift soll den Betriebsrat in die Lage versetzen, dem Arbeitgeber als Verhandlungspartner auf Augenhöhe zu begegnen und die Möglichkeiten abzuwägen, nach denen die Kündigungen vermieden werden können. Verpflichtend ist deshalb die rechtzeitige und umfassende schriftliche Unterrichtung des Betriebsrats wiederum über die Gründe der Massenentlassung, die Zahl und die Berufsgruppen der Arbeitnehmer und weitere Pflichtangaben sowie die ernsthafte Verhandlung  über einen Interessenausgleich und Sozialplan (§§ 111, 112 BetrVG).

Die Beteiligung des Betriebsrats nach § 111 BetrVG verdrängt dabei die Beteiligung nach § 17 KSchG nicht und zwar auch dann nicht, wenn der Betrieb stillgelegt und die Folgen durch einen Sozialplan geregelt werden. Beide Beteiligungen sind eigenständig, auch wenn sie zur selben Sache stattfinden. Möglich ist allerdings die Verbindung der verschiedenen Beteiligungsrechte des Betriebsrats, soweit es um dieselben Pflichten geht. Arbeitgeber sollten hierbei unbedingt jeweils genau bezeichnen, welche Pflichten sie mit welcher Beteiligung erfüllen.

Zweite Fehlerquelle: Massenentlassungsanzeige

Vor der Durchführung einer Massenentlassung ist der Arbeitgeber neben der Beteiligung des Betriebsrats verpflichtet, der Agentur für Arbeit Mitteilung zu machen. Die Agentur für Arbeit soll so in die Lage versetzt werden, sich frühzeitig auf den Vermittlungsbedarf einzurichten.

Nun ist so eine Massenentlassungsanzeige nicht mal eben so geschrieben. Es gibt 9 Bereiche, zu denen zwingend Angaben erfolgen müssen, unter anderem wiederum die Gründe für die Entlassungen, deren Berufsgruppen und die Kriterien für die Auswahl der zu entlassenden Arbeitnehmer. Wenn Sie sich einen Eindruck verschaffen möchten: Die Formulare der Bundesagentur für Arbeit sind auf der dortigen Webseite abrufbar (Link Formularbereich Bundesagentur für Arbeit).

Wird diese Massentlassungsanzeige unterlassen, führt das zur Unwirksamkeit sämtlicher Kündigungen. Wird die Massenentlassungsanzeige fehlerhaft durchgeführt, kann auch das zur Unwirksamkeit der Kündigungen führen.

(Kein) Sonderfall: Stilllegung des Betriebs

Werden sämtliche Mitarbeiter entlassen, weil der Betrieb geschlossen wird und werden hierbei die Schwellenwerte aus § 17 Absatz 1 KSchG erreicht, stellt das nichts anderes als eine Massenentlassung dar, die auch entsprechend gehandhabt werden muss. Der Arbeitgeber muss also sämtlichen Pflichten in diesem Zusammenhang ordnungsgemäß nachkommen, wenn er verhindern möchte, dass die Kündigungen angreifbar werden.

Der Fall: Die verpatzte Betriebsratsbeteiligung

Das Bundesarbeitsgericht hat sich aktuell mit einem Fall befasst, in dem der Betriebsrat im Rahmen einer Massenentlassung nicht ordnungsgemäß informiert wurde.

Der Insolvenzverwalter hatte den Betriebsrat über die geplante Kündigung sämtlicher Mitarbeiter unterrichtet, bei dieser Unterrichtung allerdings nicht die Berufsgruppen der Arbeitnehmer mitgeteilt. Der Betriebsrat bestätigte gleichwohl im Interessenausgleich, vollständig unterrichtet worden zu sein. Der Insolvenzverwalter erstattete in der Folge die Massenentlassungsanzeige und sprach sämtlichen Mitarbeitern die Kündigung aus.

Eine Arbeitnehmerin aus der Produktion erhob gegen diese Kündigung Kündigungsschutzklage mit der  Begründung, der Betriebsrat sei nicht ordnungsgemäß  beteiligt worden.

Das Urteil: Der vorschnelle Betriebsrat

Die Klägerin unterlag in allen Instanzen, wobei allerdings die Frage, welche Auswirkungen die fehlende Mitteilung der Berufsgruppen hatte, nicht entschieden wurde. Das Bundesarbeitsgericht entschied mit Urteil vom 09.06.2016 (Aktenzeichen 6 AZR 405/15), dass es durch die abschließende Stellungnahme des Betriebsrats im Interessenausgleich, er sei vollständig unterrichtet worden, nicht mehr darauf ankam, ob die Beteiligung im Punkt „Berufsgruppen“ ordnungsgemäß war. Der Fehler wurde als geheilt angesehen. Die Frage, ob und welche Folgen es hat, wenn ein Betriebsrat nicht über die Berufsgruppen informiert wurde – und eine solche pauschale Erklärung im Interessenausgleich fehlt -, hat das Bundesarbeitsgericht ausdrücklich offengelassen.

Fazit: Heilungswirkung der pauschalen Erklärung – in diesem Fall

Obwohl das Bundesarbeitsgericht die eigentlich spannende Frage, welche Auswirkungen die fehlende Unterrichtung über die Berufsgruppen hat, nicht beantwortete, ist das Urteil gleichwohl interessant. Das Bundesarbeitsgericht hat klar gestellt, dass Arbeitgeber und Betriebsrat sich an der Angabe des Betriebsrats, vollständig unterrichtet worden zu sein, im konkreten Fall festhalten lassen musste. Das ist nicht selbstverständlich, denn eine fehlerhafte Anhörung des Betriebsrats vor einer “normalen” Kündigung kann nicht mehr geheilt werden, auch nicht durch ein nachträgliches Einverständnis des Betriebsrats.

Der Insolvenzverwalter dürfte erleichtert gewesen sein, auch weil es mehrere Parallelverfahren gab. Die betroffenen Arbeitnehmer werden (mit Recht?) verärgert über die Erklärung des Betriebsrats gewesen sein.

Es wird abzuwarten sein, über welche Patzer das Bundesarbeitsgericht dem Arbeitgeber oder Insolvenzverwalter mit einer formelhaften Erklärung des Betriebsrats noch hinweg helfen wird.

Erstes Fazit also: Betriebsräte sollten vorsichtig mit der Abgabe pauschaler Erklärungen sein, Arbeitgeber und Insolvenzverwalter sollten hingegen schon aus Vorsicht auf die Abgabe solcher Erklärungen hinwirken.

Insgesamt bietet eine Kündigung im Rahmen einer Massenentlassung für Arbeitnehmer zusätzliche Angriffspunkte. Arbeitgeber müssen zunächst einmal feststellen, ob sie die Schwellenwerte des Kündigungsschutzgesetzes erreichen und deshalb erhöhte Pflichten haben. Achtung bei Umgehungsversuchen: Hier können sowohl Beschäftigte mitzählen, die grundsätzlich dem Sinne nach Arbeitnehmer sind (Praktikanten, Geschäftsführer) und auch Aufhebungsverträge können mitzählen.

Im Kündigungsschutzprozess wird der Arbeitgeber dann unter anderem die Massenentlassungsanzeige vorlegen müssen, die sodann auf Fehler hin überprüft werden kann. Das gleiche gilt für die Beteiligungen des Betriebsrates. Möglicherweise wäre der Fall anders ausgegangen, wenn der Betriebsrat nicht im Interessenausgleich unterschrieben hätte, vollständig unterrichtet gewesen zu sein.

Zweites Fazit daher: Bei einer Massenentlassung handelt es sich um ein Bündel von Maßnahmen, das der Arbeitgeber im Sinne der betroffenen Arbeitnehmer zwar so zügig und transparent wie möglich durchführen sollte, zugleich aber wegen des Risikos der Unwirksamkeit sämtlicher Kündigungen auch und nach der verschärften EuGH-Rechtsprechung noch mehr als bisher gründlich vorbereiten und prüfen muss.

Noch Fragen?

Haben Sie Fragen zu dem Thema Massenentlassung? Wir helfen Ihnen gerne weiter.

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