Unterschrift des Betriebsratsvorsitzenden ersetzt nicht Beschluss des Betriebsrats
Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 08.02.2022 (1 AZR 233/21)
Der Betriebsrat ist die Zusammensetzung der in dieses Amt gewählten Arbeitnehmervertreter und agiert als betriebliches Mitbestimmungsorgan. Seine Wahl, Zusammensetzung, Aufgaben und Befugnisse sind im Betriebsverfassungsgesetz (BetrVG) geregelt. Bereits ab fünf wahlberechtigten Arbeitnehmern, von denen drei wählbar sein müssen, besteht ein Recht auf die Gründung eines Betriebsrats. Eine wesentliche Aufgabe des Betriebsrats ist es, darüber zu wachen, dass die zum Schutz der Arbeitnehmer geltenden Normen eingehalten werden und dass der Arbeits- und Gesundheitsschutz gewahrt und gefördert wird.
Der Betriebsrat ist in dieser Funktion beteiligt an dem Abschluss von Tarifverträgen und Betriebsvereinbarungen. Beide Instrumente sind vertragliche Vereinbarungen zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat, Betriebsvereinbarungen sind jedoch meist nicht so umfangreich wie Tarifverträge. Betriebsvereinbarungen kommen häufig vor in den Bereichen betriebliche Arbeitszeitmodelle, mobiles Arbeiten oder bei bestimmten Regelungen zum Entgelt. Gültig wird eine Betriebsvereinbarung dadurch, dass sie von beiden Seiten unterzeichnet wird. Bei dieser Unterschrift vertritt der Betriebsratsvorsitzende den Betriebsrat im Rahmen der von dem Betriebsrat gefassten Beschlüsse (§ 26 Abs. 2 BetrVG). Der Arbeitgeber informiert sodann die Arbeitnehmer über die neu getroffenen Regelungen.
Heikel wird es dann, wenn die für den Arbeitgeber im wesentlichen verborgenen Abstimmungsmechanismen im Betriebsrat nicht sauber eingehalten werden. Der Arbeitgeber wird im Wesentlichen darauf vertrauen, dass der Betriebsratsvorsitzende auf der Grundlage entsprechend getroffener Beschlüsse handelt. Aber was, wenn nicht?
Was war passiert? Betriebsratsvorsitzender unterschreibt ohne Beschluss
Der spätere Kläger war seit dem Jahr 1997 als Industriemechaniker in einem Unternehmen der Stahlindustrie tätig. Hinsichtlich des für ihn geltenden Tarifvertrags präzisierte eine im Jahr 1967 geschlossene Betriebsvereinbarung, die durch den für das Werk gebildeten Betriebsrat geschlossen worden war, die Eingruppierung der Mitarbeitenden in einen betrieblichen „Lohngruppenkatalog“. Im Juni 2017 unterzeichnete der Vorsitzende des Betriebsrats eine hiervon abweichende Betriebsvereinbarung, wonach ein neues Entlohnungssystem eingeführt wurde und alle anderen für das Werk geltenden Betriebsvereinbarungen, die Regelungen zur Entlohnung beinhalten, ihre Gültigkeit verloren. Diese Unterzeichnung erfolgte ohne Beschluss des Betriebsrats, aber nach vorheriger informeller Abstimmung mit den anderen Betriebsratsmitgliedern. Von der fehlenden Beschlussfassung wusste der Arbeitgeber nichts. Eine spätere Zustimmung zu den Betriebsvereinbarungen durch Beschluss (§ 33 Abs. 1 BetrVG, § 184 Abs. 1 BGB) erfolgte nicht.
Der spätere Kläger war der Auffassung, die im Jahr 2017 geschlossene Betriebsvereinbarung habe die Betriebsvereinbarung des Jahres 1967 nicht abgelöst, weil sie mangels eines wirksamen Betriebsratsbeschlusses unwirksam sei. Er klagte auf das sich aus der ursprünglichen Betriebsvereinbarung ergebende höhere Grundentgelt.
Der Arbeitgeber vertrat die Ansicht, die Betriebsvereinbarung des Jahres 2017 sei wirksam. Der Betriebsrat habe deren Abschluss mit der Mehrheit der Stimmen der anwesenden Mitglieder beschlossen, jedenfalls sei von einer Anscheinsvollmacht des Betriebsratsvorsitzenden auszugehen.
Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts: Keine Anscheinsvollmacht im BetrVG
Das Bundesarbeitsgericht gab dem klagenden Arbeitnehmer Recht (Urteil vom 08.02.2022, 1 AZR 233/21). Zur Begründung stellte das Bundesarbeitsgericht fest, dass die gesetzlichen Voraussetzungen für den Abschluss der Betriebsvereinbarung nicht vorlagen. Weder habe ein Beschluss vorlegen noch hätten für den Betriebratsvorsitzenden die Rechtsgrundsätze der Anscheinsvollmacht gegolten.
Exkurs Anscheinsvollmacht: Der Rechtsbegriff der Anscheinsvollmacht bezeichnet eine Konstellation, in der der handelnden Person nicht ausdrücklich eine Vollmacht erteilt wurde, der gutgläubige Vertragspartner dies jedoch glauben durfte. Voraussetzung hierfür ist, dass der angeblich Bevollmächtigte eine Stellung innehat, aus der der Vertragspartner schließen darf, dass der angeblich Bevollmächtigte tatsächlich bevollmächtigt ist, der Vertragspartner hieran auch im konkreten Fall nicht zweifeln muss und dass dieses Auftreten mit einer gewissen Häufigkeit bereits erfolgt ist.
Grundsätzlich – so stellt das Bundesarbeitsgericht weiter klar – kann eine vom Betriebsratsvorsitzenden unterschriebene Betriebsvereinbarung nicht wirksam zwischen Arbeitgeber und Betriebsrat zustande kommen, wenn es an einem (zumindest nachträglich) genehmigenden Beschluss des Betriebsrats für deren Abschluss fehlt. Grund hierfür sei der nach § 33 BetrVG zu verlangende gemeinsam gebildete Willen des Betriebsrats. Die Grundsätze der Anscheinsvollmacht könnten daher anders als im gesetzlich nicht speziell geregelten Bereich nicht eingreifen. Hierfür spreche auch, dass – anders als im privaten Rechtsverkehr – die vertragliche Vereinbarung zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber nicht lediglich Rechtswirkungen zwischen den Betriebsparteien entfaltet, sondern vielmehr unmittelbar für die betriebszugehörigen Arbeitnehmer wirkt. Je nach Inhalt der Betriebsvereinbarung würde sich der vertragspartnerbezogene Schutz einer Anscheinsvollmacht damit rechtlich auch zulasten dieser Arbeitnehmer auswirken.
Fazit
Das Urteil des Bundesarbeitsgerichts deckt sich mit der überwiegenden Meinung in Schrifttum um Lehre: Eine Anscheinsvollmacht im Verhältnis zwischen Betriebsrat und Arbeitgeber kann nicht gelten, denn die Konstellation ist eine andere als zwischen privaten Vertragspartnern. Hielte man an nicht abgestimmten Entscheidungen des Betriebsratsvorsitzenden fest, würde man die gesetzlich vorgesehenen Mitbestimmungsmechanismen übergehen und die am Entscheidungsprozess unbeteiligten Arbeitnehmer an den so geschlossenen Vereinbarungen ohne gesetzliche Grundlage festhalten.
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