Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 04.05.2022 (Az. 5 AZR 359/21)
Wann spricht man von Überstunden?
Viele deutschen Arbeitnehmer leisten mehr Arbeitsstunden als arbeitsvertraglich vorgesehen; im Jahr 2020 waren es trotz des Wirtschaftseinbruchs durch die Corona-Pandemie insgesamt mehr als 1,67 Milliarden Stunden. Für solche Mehrarbeit – ob bezahlt oder unbezahlt – hat sich der Begriff Überstunden etabliert. Im rechtlichen Sinne handelt es sich bei über die vertraglich geschuldete Arbeitszeit hinausgehender Arbeit allerdings nicht immer um Überstunden; jedenfalls nicht um solche, die arbeitgeberseitig bezahlt werden müssen.
In drei Fällen muss der Arbeitgeber für die Leistung von Überstunden zahlen oder Freizeitausgleich gewähren: Entweder wurden die Überstunden angeordnet (das kann auch durch zu hohe Arbeitsbelastung geschehen), trotz fehlender Anordnung geduldet oder im Nachhinein anerkannt und auf diese Weise gebilligt.
Das eigentliche Problem ereilt Arbeitnehmer allerdings häufig im Nachhinein in einem Prozess. Hier muss nämlich sowohl die Ableistung der Überstunden als auch das Vorliegen der oben genannten Voraussetzungen dargelegt und bewiesen werden.
Bis zu dem Urteil des EuGH vom 14.05.2019 (Az. C 55/18) – dem sogenannten Stechuhr-Urteil – scheiterten viele Arbeitnehmer schon in dem ersten Schritt, denn sie hatten regelmäßig ein massives Problem, überhaupt schon die Existenz der mehr geleisteten Stunden zu beweisen. Der EuGH verlangt von den Arbeitgebern in diesem Urteil, ein System zu schaffen, mit welchem die täglich geleistete Arbeitszeit der Mitarbeitenden effektiv erfasst wird. Die vor allem in größeren Betrieben gelebte elektronische Zeiterfassung (das frühere „Stempeln“) gehört hierzu. Der deutsche Gesetzgeber muss noch ausgestalten, wie die Pflichten des Arbeitgebers konkret aussehen. Das Argument „von den Stunden nichts gewusst“ wird allerdings in Rechtsstreitigkeiten für Arbeitgeber nicht mehr funktionieren, sondern sehr wahrscheinlich zu einer Beweislastumkehr zu ihren Lasten führen.
Allerdings: Gab es keine schriftliche Anordnung für spezielle Überstunden oder die Abzeichnung von Stundenzetteln im Nachhinein, sind Anordnung, Duldung oder Billigung spezieller Überstunden weiterhin schwerlich zu beweisen. Die nach dem Urteil des EuGH zu führende Arbeitszeitaufzeichnung alleine bringt den Arbeitnehmer also nur bedingt weiter. Fraglich war deshalb, ob das Urteil des EuGH auch hier den Arbeitnehmern unter die Arme greift. Diese Frage hat das Bundesarbeitsgericht aktuell entschieden.
Was ist passiert? Auslieferungsfahrer behauptet, keine Pausen genommen zu haben
Der spätere Kläger war bis Juni 2019 als Auslieferungsfahrer bei einem Einzelhandelsunternehmen beschäftigt. Der Arbeitgeber erfasste die Arbeitszeiten ihrer Mitarbeiter durch technische Aufzeichnung, indem die Mitarbeiter Beginn und Ende ihrer Arbeitszeit erfassten und die vor Ort tätigen Mitarbeiter auch ihre Pausen. Die Fahrer hatten keine Möglichkeit, eventuell geleistete Pausen zu erfassen. Nach der Beendigung des Arbeitsverhältnisses behauptete der Arbeitnehmer, insgesamt 429 Überstunden geleistet zu haben. Er behauptete, die gesamte Zeit gearbeitet und keine Pausen gemacht zu haben. Eine Anweisung, Pausen zu nehmen, sei ihm nicht erteilt worden, geraucht und gegessen habe er nebenbei. Die Arbeit sei so beschaffen gewesen, dass eine Pausennahme nicht möglich gewesen sei. Er verlangte daher die Bezahlung dieser Überstunden. Der Arbeitgeber wandte ein, der Arbeitnehmer sei angewiesen worden, Pausen zu machen und habe darüber hinaus zusätzliche Raucherpausen genommen.
Da es an Beweisen fehlte, kam es im Rechtsstreit entscheidend darauf an, wer welche Tatsachen zu beweisen hatte (Beweislast). Nach den bisherigen Grundsätzen hätte der Arbeitnehmer den Beweis antreten müssen, dass er die behaupteten Arbeitsstunden tatsächlich erbracht hat und dass es sich hierbei auch um ausgleichspflichtige Überstunden handelte. Fraglich war, ob das oben angesprochene „Stechuhr-Urteil“ des EuGH hieran etwas geändert hat.
Das Urteil: Beweislast verbleibt beim Arbeitnehmer
Das Urteil des Landesarbeitsgerichts (LAG) Niedersachsen kam – anders als noch die Vorinstanz – zu dem Ergebnis, dass nach dem Urteil des EuGH vom 14.05.2019 keine Indizwirkung für geleistete Überstunden besteht, auch wenn der Arbeitnehmer darlegt, dass ihm die Möglichkeit der Arbeitszeiterfassung verwehrt war (LAG Niedersachsen, Urteil vom 06.05.2021, Az. 5 Sa 1292/20). Das LAG war der Auffassung, dass nach wie vor die „traditionellen“ Regeln der Darlegungs- und Beweislast in einem Überstundenprozess gelten. Das Urteil des EuGH befasse sich allein mit Fragen des Arbeitsschutzes und der effektiven Begrenzung der Höchstarbeitszeit im Sinne eines Gesundheitsschutzes.
Das Bundesarbeitsgericht folgte dem Urteil des LAG Niedersachsen (BAG, Urteil vom 04.05.2022, Az. 5 AZR 359/21). Auch das BAG ist der Ansicht, dass die bisherigen Grundsätze zur Beweislastverteilung durch das EuGH-Urteil vom 14.05.2019 nicht verändert wurde, da dieses Urteil dem Gesundheitsschutz diene und grundsätzlich keine Anwendung auf die Vergütung der Arbeitnehmer fände. Insofern sei zutreffend, dass der klagende Lieferfahrer nicht ausreichend dargelegt und bewiesen habe, ohne Pausenzeiten durchgearbeitet zu haben bzw. dass dies auch erforderlich gewesen sei.
Fazit
Das „Stechuhr-Urteil“ hat im Jahr 2019 für große Verunsicherung auf Seiten der Arbeitgeber gesorgt und findet sich bis heute nicht konkret im nationalen Recht wieder. Das BAG hat nun einstweilen für Klarheit in einer wichtigen Frage gesorgt: In Überstundenprozessen trägt nach wie der Arbeitnehmer die Darlegungslast und zunächst auch die volle Beweislast für die Voraussetzungen ausgleichspflichtiger Überstunden. Fraglich bleibt allerdings nach wie vor, was der Gesetzgeber aus dem Urteil des EuGH macht.
Haben Sie Fragen zu dem Thema Überstunden oder Nachweispflichten? Wir helfen Ihnen gerne weiter.
KERNER Rechtsanwälte
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