Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 23.09.2015
Zur Beweislast bei abredewidrig nicht geführten Arbeitszeitkonten
In der Praxis kommt es zu Überstunden etwa so: Es liegt viel Arbeit an, die auch noch eilig ist. Entweder stimmen sich nun Vorgesetzter und Arbeitnehmer darüber ab, dass heute länger gemacht wird oder der Arbeitnehmer tut das von sich aus. Die Zeit über den eigentlichen Feierabend hinaus wird aufgeschrieben und, je nachdem, wie es im Betrieb gehandhabt wird, entweder absehbar abgebummelt oder ausgezahlt.
Auch wenn sich dieses Prinzip hundertfach bewährt hat – juristisch betrachtet müssen hier keine ausgleichspflichtigen (!) Überstunden angefallen sein.
Lässt man die Möglichkeit außen vor, eine bestimmte Anzahl an Überstunden mit dem Gehalt abzugelten, was längst nicht immer wirksam ist, muss der Arbeitgeber nur in drei Fällen für Überstunden zahlen oder Freizeitausgleich gewähren: Entweder wurden die Überstunden angeordnet, trotz fehlender Anordnung geduldet oder im Nachhinein anerkannt und auf diese Weise gebilligt.
Eine Anordnung von Überstunden kann auch vorliegen, wenn dem Arbeitnehmer so viel Arbeit zugewiesen wurde, dass er sie nur mit Überstunden bewältigen konnte; das hat aber wiederum der Arbeitnehmer nachzuweisen.
In allen anderen Fällen handelt es sich letztlich, auch wenn das mit der Realität gelegentlich nicht übereinstimmen mag, um das Privatvergnügen des Arbeitnehmers. So könnte unser überobligatorisch fleißiger Arbeitnehmer aus dem obigen Beispiel, der von sich aus länger bleibt, ohne sich hierzu mit seinem Vorgesetzten zu besprechen, mit einem Ausgleichsverlangen scheitern.
Der Ausgleich: Vorrangig Vergütung!
Da Arbeitszeit (natürlich) grundsätzlich in Geld auszugleichen ist und nicht in Gegenzeit, besteht auch für Überstunden zunächst einmal eine berechtigte Vergütungserwartung – in Geld. Mindestens so häufig wie die Auszahlung ist aber der Freizeitausgleich, also das Abbummeln. Was kaum ein Arbeitnehmer, vielleicht auch nicht jeder Arbeitgeber, weiß: Das ist nur zulässig, wenn es vertraglich vorbehalten ist oder beide damit einverstanden sind.
Das eigentliche Problem: Der Beweis
Ein viel häufigeres Problem als das Vorliegen der Voraussetzungen für echte Überstunden ist deren Beweisbarkeit. Denn in einer stillen Ecke einen Stundenzettel zu führen bringt den Arbeitnehmer nicht weiter. In der Regel gibt es nämlich keine Zeugen für die konkrete Anweisung, Duldung oder Billigung exakt dieser Überstunde. Dann hilft alleine eine vom Arbeitgeber gegengezeichnete oder gleich erstellte Arbeitszeitaufstellung, das ist dann juristisch gesehen mindestens die nachträgliche Billigung dieser Überstunden.
Sonderfall Arbeitszeitkonto
Verwandt, aber nicht identisch mit Überstunden, ist das Arbeitszeitkonto.
Führen Sie für sich oder als Arbeitgeber für Ihre Mitarbeiter ein Arbeitszeitkonto? Falls Sie jetzt etwas überlegen mussten: Vielleicht kennen Sie das auch unter dem etwas glanzloseren Begriff Arbeitszeitaufstellung oder Stundenzettel. Allerdings eine Einschränkung: Nicht jede einvernehmliche Aufzeichnung der Arbeitszeit ist ein echtes Arbeitszeitkonto. Denn ein Arbeitszeitkonto funktioniert wie ein Girokonto mit Überziehungsrahmen – in beide Richtungen. Gemessen an der vertraglichen Arbeitszeit werden Plus- aber auch Minusstunden saldiert und zu einem Zeitguthaben oder zu Zeitschulden zusammengefasst. Ein Arbeitszeitkonto ist also etwas anderes als der „Überstundenzettel“.
Dieses Risiko des Arbeitnehmers, auch Minusstunden zu sammeln, ist in dem gesetzlichen Konzept für die abhängige Beschäftigung nicht vorgesehen. Deshalb verlangt die Rechtsprechung für ein Arbeitszeitkonto, das in beide Richtungen funktioniert, eine klare Grundlage im Arbeitsvertrag, im Tarifvertrag oder in einer Betriebsvereinbarung. Ohne eine solche Grundlage können Arbeitgeber Minusstunden nicht verrechnen.
Was daneben auf jeden Fall sinnvoll ist: Klare Regelungen dazu, welchen Umfang das Arbeitszeitkonto haben darf (an Plus- und Minusstunden), wann überhaupt eine Plusstunde und wann eine Minusstunde vorliegt und natürlich, wie bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses verfahren wird.
Der Fall: Arbeitszeitkonto nicht geführt, Überstunden selbst notiert
Das Bundesarbeitsgericht hatte in einem aktuell veröffentlichten Urteil darüber zu entscheiden, was eine Arbeitnehmerin beweisen muss, wenn der Arbeitgeber abredewidrig das vereinbarte Arbeitszeitkonto nicht führt und die Arbeitnehmerin die Überstunden daher selbst aufzeichnet (Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom 23.09.2015, Az. 5 AZR 767/13).
Die Arbeitnehmerin war seit Juni 2007 als Sekretärin und Assistenz der Geschäftsleitung bei einem Unternehmen angestellt, das mehrere Kleidungsgeschäfte betreibt. Im Arbeitsvertrag vereinbarte sie mit ihrem Arbeitgeber, dass Mehr- bzw. Minderstunden über ein Zeitkonto abgerechnet würden. Der Arbeitsvertrag sah ausdrücklich vor, dass bei Austritt aus dem Unternehmen der Saldo dieses Kontos mit dem durchschnittlichen Stundenlohn verrechnet würde.
In den ersten anderthalb Jahren erhielt die Klägerin von ihrem Arbeitgeber monatlich eine Aufstellung, aus dem sich der Beginn und das Ende ihrer Arbeitszeit und die Gesamtstunden ergaben. Danach bekam sie diese Berichte nicht mehr, ohne dass es dafür einen berechtigten Grund gegeben hätte.
Die Klägerin führte ab dann eigene Arbeitszeitaufstellungen. Diese Aufstellungen legte sie allerdings niemandem vor. Am Ende des Arbeitsverhältnisses im Dezember 2011 hatte sie in ihrer eigenen Aufzeichnung ein Stundenguthaben von gut 643 Stunden berechnet, hinzu kamen die Plusstunden, welche in der letzten Aufstellung ihres Arbeitgebers verzeichnet waren. Insgesamt machte die Arbeitnehmerin den Ausgleich von 1.057 Stunden geltend.
Das Urteil: Selbst mitschreiben reicht nicht
Das Landesarbeitsgericht Hamm gab ihr noch vollständig Recht und hat es genügen lassen, dass ein Arbeitszeitkonto vereinbart wurde und die Klägerin ein Zeitguthaben dem Grunde nach darlegte.
Dieses Ergebnis korrigierte das Bundesarbeitsgericht in der Revision. Die Klägerin bekam nur eine Zahlung für den Stundensaldo der letzten „offiziellen“ Aufzeichnung zugesprochen, nicht für den Saldo ihrer eigenen Aufzeichnung.
Die Stunden aus der letzten Ausstellung des Arbeitgebers hat das Bundesarbeitsgericht als anerkannt angesehen. Die Stunden waren also durch die vorbehaltlose Ausweisung im Arbeitszeitkonto jedenfalls nachträglich gebilligt worden.
Was die restlichen Stunden anging, legte das Bundesarbeitsgericht die üblichen Maßstäbe für Überstunden an. Die Klägerin hatte zwar angeben können, dass und wann sie Überstunden geleistet hatte. Sie konnte aber nicht beweisen, dass diese Überstunden arbeitgeberseitig angeordnet, geduldet oder gebilligt worden waren.
Spannend daran ist, dass es für das Bundesarbeitsgericht keinen Unterschied machte, dass die Arbeitgeberin der Arbeitnehmerin keine Arbeitszeitaufstellungen mehr zur Verfügung stellte und damit faktisch vertragswidrig das vereinbarte Arbeitszeitkonto nicht mehr führte. Das half der Arbeitnehmerin deshalb nicht weiter, weil nach der Auffassung des Bundesarbeitsgerichts die Arbeitnehmerin ja auch für die Einstellung in das Arbeitszeitkonto, also im laufenden Arbeitsverhältnis, hätte darlegen müssen, dass diese Stunden angeordnet, geduldet oder gebilligt worden waren. Erst dann wäre es möglicherweise zu dem Anerkenntnis durch vorbehaltloses Ausweisen in der Arbeitszeitaufstellung gekommen.
Fazit: Tut der Arbeitgeber nichts, muss der Arbeitnehmer aktiv werden
Damit ein Arbeitnehmer einen Anspruch auf Auszahlung von Überstunden geltend machen kann, muss er erstens exakt nachweisen können, wann er mehr gearbeitet hat als vertraglich vorgesehen und zweitens, dass diese Mehrarbeit entweder angeordnet oder geduldet oder gebilligt war. Im Prozess funktioniert das häufig nur mit einem arbeitgeberseitigen oder vom Arbeitgeber unterschriebenen Stundenzettel. Mit dem erheblichen Beweisproblem ohne einen solchen Stundenzettel belastet das Gesetz den Arbeitnehmer, weil grundsätzlich derjenige die Voraussetzungen zu beweisen hat, der etwas fordert (hier die Überstundenvergütung).
Diese Grundsätze gelten auch für den Fall des Arbeitszeitkontos, nur dass hier die Stunden in der Regel durch vorbehaltlose Einstellung in das Konto anerkannt werden – aber nur, wenn sie auch tatsächlich ausgewiesen werden. Führt der Arbeitgeber das Arbeitszeitkonto aus welchen Gründen auch immer, also auch entgegen einer Vereinbarung, nicht, greifen die normalen Grundsätze zur Überstundenvergütung.
Die Linie des Bundesarbeitsgerichts ist relativ hart. Bei lebensnaher Betrachtung wären die Überstunden in das Arbeitszeitkonto aufgenommen und damit anerkannt worden, wenn die Arbeitgeberin das Arbeitszeitkonto denn absprachegemäß geführt hätte. Zugleich folgt das Urteil aber konsequent den geltenden Grundsätzen; entweder es gibt ein geführtes Arbeitszeitkonto oder es gelten die hohen Nachweishürden.
Für das Thema Überstunden gilt daher nach wie vor, dass Arbeitnehmer die Wahl haben, sich entweder in alle Richtungen abzusichern oder das Risiko in Kauf zu nehmen, für Überstunden keinen Ausgleich zu erhalten.
Noch Fragen?
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